Statement von Prof. Dr. Jörg Desel
Um die Berufsausbildung mit den verzahnten Lernorten Betrieb und Berufsschule werden wir international beneidet. Das duale Studium geht einen Schritt weiter und verknüpft praxisorientierte Ausbildungen mit akademischen Inhalten. Diese erfolgreichen Formate passen aber nicht für alle und bieten keine Angebote für Menschen, die ihre bereits erworbenen Kompetenzen passend ergänzen wollen.
Erfahrungen der Hochschulen mit Studenten aus beruflichem Kontext zeigen, wie fruchtbar die Verzahnung von Studium und beruflicher Ausbildung oder Praxiserfahrung sein kann. Erfolge machen sich nicht nur an Abschlüssen fest, sondern an der Erreichung individueller Ziele der Studenten, die universitäre Angebote als wissenschaftliche Unterfütterung ihres Praxiswissens, als Karrierebooster, als Erweiterung ihres Qualifikationsbereichs oder ohne berufliche Perspektive wahrnehmen. Dieser heterogenen Ausgangssituationen und Ziele müssen sich Hochschulen annehmen. Leider beschränkt sich Diversitätsberücksichtigung aber bislang weitgehend darauf, dass zwar die Verschiedenheit der Ausgangssituationen wahrgenommen und berücksichtigt wird, dies aber eher im Sinne der Mängelbeseitigung und weniger durch Wertschätzung besonderer Kompetenzen und insbesondere nicht durch Berücksichtigung individueller Ziele.
Statt für alle denkbaren Ausprägungen von Kompetenzen und Zielen entsprechende Varianten des Studiums vorzuhalten, sollten Module und Programme so angeboten werden, dass Studenten selbst entsprechend ihrer Ziele, Qualifikationen und Erfahrungen ihr Studium dynamisch konfigurieren. Sie wollen früher und neu erworbenes Wissen berücksichtigt wissen und einbringen, auch um anderen Studenten zusätzliche Sichten und Einsichten zu ermöglichen. Dazu reicht ein einfaches Baukastensystem nicht aus. Meist kann ein Student sein Studium anfangs nicht selbst konfigurieren, so wie eine Bauherrin auch nicht alle Aspekte kennt, die für den Bau eines Hauses notwendig sind, aber eine Vorstellung davon hat, wie sie mit ihrer Familie in diesem Haus leben möchte. Diese Metapher trägt allerdings nicht weit, denn ein Studium dauert Jahre und die Ziele ändern sich.
Wie ein derartiges individualisiertes, adaptives Studium möglich wird, ist Gegenstand der Forschung. Welche Kompetenzen der einzelne Student benötigt, um seine Bildungskarriere zu gestalten, und wie diese vermittelt werden können, ebenfalls. Sicher ist Digitalisierung dafür wesentliche Voraussetzung, aber sie muss gezielt eingesetzt – und an einigen Stellen gezielt nicht eingesetzt werden.
Über Prof. Dr. Jörg Desel
- FernUniversität, Lehrgebiet Softwaretechnik und Theorie der Programmierung
- Mitglied des Leitungsteams des Forschungsschwerpunktes D²L²
- Informatik-Hochschullehrer am Karlsruher KIT (Mitwirkung an Projekten zu Virtuellen Universitäten), an der Katholischen Universität Eichstätt und seit 2010 an der FernUniversität; Gastprofessuren an den Universitäten Klagenfurt, Paris 13 und CNAM Paris.
- Initiator und Gründungssprecher der Fachgruppe Bildungstechnologien der Gesellschaft für Informatik (GI); Koautor der GI-Empfehlungen zur Gestaltung von Bachelor- und Masterprogrammen sowie zu Lern- und Ausbildungsinhalten im Fach Data Science.
- Initiator der Tagungsreihe DELFI zu Informatikaspekten beim E-Learning, wissenschaftlicher Leiter 2003 und 2012; Gründungssprecher der DELFI-Fachgruppe für berufliche Bildung; Sprecher der Fachgruppe ISH (Informatik in Studiengängen an Hochschulen), zuvor Sprecher des Fachbereichs IAD (Informatik in der Ausbildung / Didaktik der Informatik).
- Gutachter für öffentlich geförderte Projekte (DFG, BMBF) im Bereich E-Learning und für die Virtuelle Hochschule Bayern; Mitglied des Fachausschusses Informatik und der Zertifizierungskommission akademische Weiterbildung der Akkreditierungsagentur ASIIN.
- Aktiv bei Informatics Europe sowie bei der Europäischen Akkreditierungsorganisation EQUANIE.
- Besondere Schwerpunkte in der Lehrentwicklung aktuell im Bereich Durchlässigkeit von Ausbildung und Studium, sowie in der Internationalisierung unter Berücksichtigung kultureller Unterschiede, beides mit dem Ziel, Bildungsgerechtigkeit zu fördern.