Im vorherigen Beitrag „Agile Hochschullehre kritisch hinterfragt, Teil 1“ wurde in das Thema Agilität eingeführt. In diesem Teil geht es nun um die Übertragung auf die Lehre.
Agilität für die Lehre
Alexander Sperl (AS): Das ist ja bisher alles eher auf die Arbeitswelt bezogen. In unserem Gespräch soll es aber auch darum gehen, welchen Gewinn die Methoden und das Mindset der Agilität für die Lehre bringen könnten oder wo vielleicht auch die Nachteile liegen.
Nicole Engelhardt (NE): Ich glaube, dass es heutzutage nicht mehr darum geht, dass wir vertieftes Wissen erlernen, sondern dass wir tatsächlich lernen müssen, wie wir zusammenarbeiten, wo Wissen zu finden ist usw. Es ist wichtig mit anderen Menschen zusammenzuarbeiten und sich andere Perspektiven anzueignen. Ich glaube, dass man nicht früh genug damit anfangen kann, das sollte also schon in der Schule so gemacht werden. Da können Lernende dann herausfinden, wo ihre Talente liegen, für welche Themen sie sich interessieren, wohin sie sich orientieren wollen. Das sind Motivationsfaktoren, die dann später im Arbeitsleben wieder guttun. Das ist das, was ich unter agilem Lehren und Lernen verstehen würde.
Tanja Adamus (TA): Ich glaube trotzdem, dass es eine gewisse Basis an Wissen braucht. Gerade wenn du sagst, dass wir mittlerweile so spezifisch und so vertieft in Wissensfeldern sind. Ich kann nicht von jeder*m erwarten, dass er*sie sich in jedes Feld einarbeitet. Ich brauche Expertise, ich brauche Menschen, die Vorwissen mitbringen, gerne auch vertieftes Vorwissen. Und das muss ich in irgendeiner Form vermitteln können. Ich finde es wichtig, dass jemand gerade in formellen Lernsettings wie Schule oder Hochschule mit einem gewissen Abschluss auch ein bestimmtes Wissen mitbringt und da muss ich mich als Arbeitgeber*in auch verlassen können.
Klar sind wir nie fertig mit Lernen, da gebe ich dir vollkommen recht. Und wir müssen auch im Team arbeiten können. Diese Einzelkämpfer*innen, die vielleicht immer noch an Hochschulen ausgebildet werden, darüber dass es einzelne Prüfungsleistungen gibt und einzelne Noten, die werden es im Arbeitsleben schwer haben. Aber eine gewissen Sicherheit und ein Vertrauen muss ich haben, dass ein*e Absolvent*in bestimmte Dinge mitbringt.
NE: Dem würde ich auch gar nicht widersprechen wollen. Natürlich gibt es zum Beispiel bestimmte Kulturtechniken, die gelernt werden müssen, also z. B. Lesen und Schreiben. Dann finden ich es aber durchaus wichtig, dass man sich spezialisieren kann. Dass also auch die Schule da schon offener wird in Bezug auf die Selbstorientierung. Im Studium haben wir es dann in der Regel ja sowieso.
Aber darüber hinaus sind eben auch die Social Skills wichtig. Die sollten noch mal intensiver betrachtet werden. Es geht eben nicht nur darum die Fakten zu lernen. Die braucht man zwar auch, weil die Teams interdisziplinär zusammengesetzt werden sollen. Da brauchen die unterschiedlichen Personen unterschiedliche Hintergründe. Aber im Team interagieren zu können ist das, was dann wichtig ist. Es geht also nicht um ein entweder oder, sondern um ein sowohl als auch und eventuell auch noch um die Reihenfolge, bei der ich Expertise nachlagern würde.
TA: Mich hat das auch in dem Artikel so ein bisschen gestört, dass alles so offen ist. Als ob es egal wäre, was man jetzt genau im Studium gelernt hätte. Man studiert hier ein bisschen und da ein bisschen und es las sich so, als gäbe es gar keine Vorgaben mehr. Wenn die agile Herangehensweise mit gewissen Vorgaben verschränkt wäre, dann fände ich das gut. Aber das hat mir da einfach gefehlt.
NE: Jetzt muss ich mal ein bisschen von Agilität weggehen. Was ich ganz spannend finde ist, dass Hochschulen aus meiner Sicht irgendwann – das mag noch Jahre oder Jahrzehnte dauern – Zertifizierungsstellen sein werden. Sie werden zwar auch noch Wissen erschaffen alleine durch die Forschung. Aber ich glaube, dass der Fokus nicht mehr auf der Wissensvermittlung liegen muss. Viel Material zur Wissensvermittlung ist im Netz zu finden und viel mehr wird in Zukunft noch zur Verfügung gestellt werden. Aber die Hochschulen geben einen Rahmen vor, was hinterher zertifiziert wird, und da muss dann auch geprüft werden, was bescheinigt wird. Es wird egal sein, ob die Inhalte informell gelernt werden oder in einer Vorlesung an der Uni oder bei einem Kollegen im Forschungsprojekt. Die Person, die lernt kann ihren Weg auswählen und dieser Weg ist im Zweifel der bessere und persönlich passendere Weg.
AS: Aber wenn ich jetzt die Studierendenperspektive einbringe, dann hört man doch in letzter Zeit auch vermehrt die Stimmen, die sagen: „Wenn mir jemand da anderthalb Stunden was in Zoom erzählt, dann ist mir das lieber als wenn ich selbst was machen muss.“ Das kann ich jetzt nicht mit Studien belegen, aber ich habe den Eindruck, dass es erst einen kulturellen Wandel geben muss, der immer noch nicht vollzogen ist. Dass es nämlich weggeht vom reinen Konsumieren der Inhalte hin zum selbst Erarbeiten oder Erschaffen. Aber ich bin mir auch nicht sicher, ob alle Studierenden da so begeistert sind, wenn sie sozusagen alleine gelassen werden mit ihrem Lernen und die Hochschule vereinfacht gesagt nur dazu da ist, die ganzen informellen Sachen zusammenzuschnüren und einen Bachelor herauszugeben. Gerade bei den grundständigen Studiengängen finden die Studierenden es doch auch total super, wenn sie da eine Koryphäe treffen, mit der sie diskutieren können. Wenn da also jemand ist, der*die seit Jahren in einem Bereich forscht und dann die Inhaltsvermittlung übernimmt und dem*der die Lernenden vertrauen können. Das ist dann mehr als nur eine Zertifizierungsstelle.
TA: Da sind wir bei einem Bild, was Hochschule einmal war, nämlich das sehr viel selbstbestimmtere Studium. Ich konnte in eine Vorlesung gehen oder nicht, ich habe Anregungen für Bücher bekommen und wenn man noch weiter zurückgeht, dann war das der direkte Austausch mit Dozierenden, auf Basis dessen ich dann selbst weiterstudiert habe. Ich war auch immer eine Freundin davon zu sagen, mir ist es schlussendlich egal, wie meine Lernenden an ihr Wissen kommen. Allerdings gibt es auch Lernende, die Struktur brauchen und die nicht damit zurechtkommen, wenn alles ganz frei ist. Und ich glaube, da muss man aufpassen, dass man die nicht verliert.
NE: Aber da würde ich jetzt sagen, dass es die Vielfalt braucht und die Öffnung, dass alles möglich ist. Im Arbeitsleben möchtest du ja schon selbstständig denkende Menschen haben. Ich bin mir bewusst, dass das ein Idealbild ist. Aber ich finden, das Ziel muss es sein, die Menschen zu befähigen, selbstständig zu denken und zu arbeiten. Und nichts anderes ist ja z. B. auch Gilly Salmons 5-Stufen-Modell. Dort werden die Lernenden am Anfang begleitet und danach sollen sie immer selbstständiger werden.
Die Frage ist, muss ich das allen anbieten oder kann ich das denen anbieten, die das brauchen und kann ich den anderen nicht eine Alternative anbieten, dass sie eigenständig lernen können, wenn sie das möchten. Davon sind wir noch weit entfernt.
Ansonsten bin ich auch erst mal eurer Meinung, das hat aber auch mit einem geänderten Rollenbild von Lehrenden zu tun. Damit meine ich das Rollenbild vom Lernbegleiter, der das Lernen an sich unterstützt. Bei uns ist es ja auch so, dass in der Studieneingangsphase sehr stark unterstützt wird.
Auch den angesprochenen Austausch mit Expert*innen finde ich total reizvoll, aber da ist die Frage, ob das in einer 90-minütigen Vorlesung überhaupt stattfinden kann oder ob es da nicht ohnehin andere Formate für benötigt. Da denken ja viele schon in die Richtung, dass sich andere Formate und andere Settings sehr viel besser dafür eignen.
TA: Es müsste eben sichergestellt werden, dass die Studierenden bestimmte Dinge auch wirklich können. Dass sie also unterscheiden können, was ist ein qualitativ guter Beitrag, wo finde ich reliable Quellen, welche Studien sind aussagekräftig usw.
Ich stimme dir da auch zu, dass es nicht die 90-Minuten-Vorlesung dafür braucht und dass andere Formate zielführender sind. Allerdings kenne ich aus meinem Studium auch Beispiele von Dozierenden, bei denen es gerade gewinnbringend war, 90 Minuten zuzuhören, weil die ihre Gedankengänge gut darlegen konnten und es faszinierend war zu hören, welche Ideen die entwickeln. Das Konsumieren, das eben angesprochen wurde, ist ja auch gar nicht immer so schlecht und es ist auch nicht passiv. Wenn ich aktiv konsumiere, dann muss ich mich mit den Gedankengängen auseinandersetzen und das triggert etwas in mir, aus dem dann wieder was erwachsen kann.
Wie können denn die Offenheit von Agilität und die strikten Vorgaben des Studiums nach Bologna in Einklang gebracht werden? Handelt es sich bei der Einführung von Agilität vielleicht sogar um eine Rebellion gegen Bologna? Diese Fragen versuchen wir im dritten Teil zu beantworten.