Das diesjährige University:Future Festival konnte sich alleine mit den reinen Zahlen schon sehen lassen: mehr als 600 Speaker*innen, mehr als 5000 angemeldete Personen und ein vollgepackter Session-Plan. Wegen letzterem habe ich mir auch die etwas wackelige Übersetzung des Kinofilms von Daniel Kwan und Daniel Scheinert als Titel dieses sehr subjektiven Rückblicks einfallen lassen. Subjektiv, weil ich erstens aus acht Seiten Notizen einen lesbaren Blog-Beitrag destillieren muss und zweitens natürlich nur in einem Bruchteil der Sessions war. Ich versuche also, meine persönlichen Highlights zusammenzufassen. Da das trotz der Auswahl zu viel für einen Beitrag wäre, ist der Rückblick auf zwei aufgeteilt: einer für den ersten Tag und einer für die Tage zwei und drei.
Keynotes des ersten Morgens: Nachhaltigkeit für Zukünfte
Die erste Keynote nach der Eröffnung wurde von Neil Selwyn von der Monash University in Melbourne gehalten. Er wies darauf hin, dass die Digitalisierung häufig keine nachhaltige Entwicklung ist. Das gilt nicht nur für die Digitalisierung der Bildung, sondern für alle Bereiche, in denen sie eine besondere Rolle spielt. Der hohe Stromverbrauch, der durch Digitalisierung produziert wird, steht im Kontrast zur Tatsache, dass wir nicht mehr auf die Vorteile der Digitalisierung verzichten möchten. Gleichzeitig bedroht der Klimawandel, der unter anderem durch den erhöhten Stromverbrauch verursacht wird, ganz konkret alle Bereiche, die mit Digitalisierung zu tun haben. Wenn ein Rechenzentrum überflutet wird oder aufgrund von heißem Wetter abgeschaltet werden muss, kann auch auf die benötigten Daten niemand mehr zugreifen. Zwar wird häufig argumentiert, dass Menschen zum Beispiel weniger reisen müssen, weil sie über Videokonferenzsysteme miteinander sprechen können. Ob das aber wirklich zu einer geringeren CO2-Bilanz insgesamt führt ist noch unklar.
Für Neil Selwyn steht fest, dass es konkrete Schritte gibt, wie für mehr Nachhaltigkeit bei der Digitalisierung insbesondere in der Bildung gesorgt werden kann. Das ist zum einen das Zurückziehen aus unnachhaltigen Formen von digitaler Bildung und zum anderen die Förderung von effizienten Praktiken in der Digitalisierung durch effiziente Lösungen im Hard- und Software-Bereich. Wichtig ist dabei auch, bei den Studierenden, die die Zukunft mitgestalten werden, ein Bewusstsein für diese effizienten Lösungen zu schaffen.
Auch bei Gilly Salmon ging es um die Zukunft. Ähnlich wie Neil Selwyn betonte sie die Unvorhersagbarkeit und stellte die Frage, wie Studierende darauf vorbereitet werden können. Gilly Salmon ist vielleicht einigen von ihrem 5-Stufen-Modell bekannt. So war es auch wenig verwunderlich, dass auch ihre Vorschläge für „future-proofed education“ fünf Stufen beinhalteten:
- „Design once: Deploy many times“ bedeutet, dass Materialien und Methoden einmal erstellt, aber danach mehrfach genutzt werden können sollten.
- „Start with a new vision“ weist darauf hin, dass eine Vision von der Zukunft benötigt wird, bevor mit der Gestaltung von Bildung für die Zukunft begonnen werden kann.
- „Create learning aspirations“ heißt übersetzt „Lernbestreben kreieren“ und zielt auf die Tatsache ab, dass es nicht mehr genügen wird, Studierenden zu sagen, was sie wissen müssen. Vielmehr müssen sie dafür fit gemacht werden, immer Neues lernen zu wollen. Ohne dieses Bestreben werden Sie den Anforderungen der Zukunft nicht gerecht werden können.
- „Engage stakeholders & beyond“ bedeutet nicht nur, dass die Gremien der Hochschule eingebunden werden sollten, sondern auch Multiplikator*innen, Studierende, Alumni usw.
- „Absorb future technologies“ heiß schließlich, dass alle Beteiligten an Bildungsprozessen ständig am Ball bleiben müssen, was die technischen Entwicklungen anbelangt, die eine Auswirkung auf die Bildung haben können.
Diese Punkte verweisen klar auf die Future Skills hin, die Lernende auch in die Lage versetzen sollen, in einem zukünftigen, jetzt noch völlig unklaren Arbeitsumfeld bestehen zu können.
Lightning Talks, Teil 1
Ein sehr interessantes Kurzformat, mit dem man schnell viele Informationen zu interessanten Projekten und Ansätzen bekommen konnte, waren wieder einmal die Lightning Talks. Ich picke hier zwischen den übrigen Zusammenfassungen einige interessante Projekte heraus, deren Ergebnisse vielleicht auch an der FernUni eine Rolle spielen könnten:
- Im Projekt „Feedback-Basiertes E-Assessment in Mathematik, Informatik und Ingenieurwissenschaften (FAssMII)“ an der HTWK Leipzig werden unter anderem Aufgaben mit Python und Jupyter Notebooks generiert. In einem Interview geben die Projektverantwortlichen einen Einblick in das E-Assessment-System PyRope.
- An der Charité wurde mit dem Inter-Agent ein persönlicher Tutor eingeführt, der Medizinstudierende in die Verwendung von KI in Gesundheitsberufen einführen soll. KI-basierte Anwendungen werden in der nächsten Zeit auch in der Medizin eine herausragende Rolle spielen.
Psychometrisch fundierte E-Klausuren
Cosima Schenk vom Institut für Psychologie der Goethe-Universität Frankfurt stellte in ihrem Vortrag vor, wie psychometrische Standards in die Gestaltung von E-Klausuren einfließen können. Dabei ging es um ein Konzept mit dem etwas sperrigen Namen „Kriteriumsorientiertes adaptives Testen in der Hochschule“. Um psychometrische Qualität in Klausuren sicherzustellen, sollten laut Schenk vier Aspekte berücksichtigt werden:
- Bei der Operationalisierung kompetenzorientierter Lernziele geht es darum, die Aufgaben aus bestimmten Inhaltsbereichen konkreten Stufen einer Lernzieltaxonomie zuzuordnen. Je nachdem, wie wichtig bestimmte Stufen wie z. B. Anwendung oder Analyse für einen Inhaltsbereich sind, können Aufgaben, die diese Stufen behandeln mit einer höheren Gewichtung versehen werden.
- Die Ermöglichung von kriteriumsorientierten Testwertinterpretationen zielt darauf ab, dass bestimmte Standards zum Bestehen einer Prüfung bzw. zur Benotung der Prüfung kohortenübergreifend sichergestellt werden können. Damit wird eine Vergleichbarkeit und eine größerer Chancengleichheit garantiert. Dabei wurde die Item Response Theory als Messmodell herangezogen.
- Da der Maßstab auch kohortenübergreifend konstant bleiben soll, werden die Testzeitpunkte miteinander verlinkt. Dazu werden sogenannte Ankeraufgaben verwendet, bei denen die Itemschwierigkeit bereits bekannt ist. Darum herum werden die neuen Aufgaben in ihrer Schwierigkeit im Vergleich zu den Ankeraufgaben geschätzt. Das kann auch bedeuten, dass eine Kohorte besser benotet wird als eine andere. Die Objektivität der Prüfung wird also manifestiert.
- Bei der Angleichung der Messpräzision geht es schließlich darum, die Fairness zu erhöhen, indem die Aufgabenstellungen für Personen mit hoher oder niedriger Kompetenz angeglichen werden. Die Items, die einer Person vorgelegt werden, orientieren sich am vorherigen Antwortverhalten der Person, sind also adaptiv. Die Kompetenzeinstufung geht mit in die Bewertung ein, sodass wiederum die Vergleichbarkeit gegeben bleibt.
An der Uni Frankfurt wurde auf diesem Modell eine App entwickelt, über die es auf diesen Seiten weitere Infos gibt: https://kat-hs.uni-frankfurt.de/
Keynotes zu KI
Am Nachmittag des ersten Tags wurde die KI-Campus Bühne eröffnet und hatte zunächst zwei Keynotes im Programm, die den Blickwinkel der freien Wirtschaft auf das Thema KI thematisierten.
Alois Krtil (ARIC Hamburg) appellierte, dass sich Europa an die Spitze der Bewegung für verantwortungsvolle KI (Responsible AI) setzen müsse. Ob dabei der AI Act des Europaparlaments ein Schritt in die richtige Richtung ist, wird sich zeigen. Sicher ist, dass ohne eine Regulierung Gefahren durch KI auftauchen können, bei denen noch niemand einen Überblick hat. Laut Krtil muss auf vier Gebieten Expertise für einen verantwortungsvollen Umgang mit KI aufgebaut werden: Recht, Technologie, Wirtschaft und Gesellschaft. Alle Bereiche müssen dabei in den Dialog treten und zusammenarbeiten.
Jonas Anruli vom Heidelberger KI-Unternehmen Aleph Alpha beleuchtete Möglichkeiten, wie die Quellen von KI-Anwendungen sichtbar gemacht werden können. Die gezeigten Beispiele machten deutlich, dass der Fluss und die Herkunft von Fakten sichtbar gemacht werden können. Quellen werden kenntlich gemacht, bei der Beschreibung eines Bildes kann per Mausklick nachvollzogen werden, wie die KI auf ihre Einschätzung kommt. Das System bietet also „Beweise“ für Aussagen bzw. Disclaimer, was stimmen könnte und was nicht. Ob das auch jenseits der Beispiele reibungslos funktioniert, wird sich zeigen. Ein interessanter Ansatz für verantwortungsvolle KI war es allemal.
Lightning Talks, Teil 2
In einer weiteren Lightning Talks Session ging es um Extended Reality (XR), also alles, was unsere normale Realität erweitert. XR ist ein Sammelbegriff für Virtual, Augmented und Mixed Reality.
- Ein Projekt der HTW Berlin untersucht, wie Mixed Reality zur Unterstützung von Gruppenprozessen eingesetzt werden kann.
- An der HS Rhein Waal wird aus dem Labor gestreamt, sodass Studierende mit Hilfe von Tracking Webcam und Stream Deck wie beim Gaming mitdrin dabei sein können. Zwar nicht direkt XR, aber trotzdem interessant.
- Immersiv geht es auch beim Projekt LeWel an der FH Erfurt zu.
- Ebenso in den MINT-VR-Labs der Berliner Hochschule für Technik, die auch schon bei der TURN Conference vorstellten.
Unterbrochen wurden die Projektvorstellungen durch einen studentischen Beitrag, der ein flammendes Plädoyer nicht nur für den Einsatz von XR-Technologien in der Lehre war. Eine Studentin der Uni Osnabrück stellte das Meinungsbild der Studierenden vor, die sich viel mehr Einsatz von modernen Technologien und digital gestützten Lehrmethoden wünschten. Vor allem das Lernen durch Erleben kann dabei gut von XR unterstützt werden.
Lehrentwicklung – Strategie oder Zufall?
Die besten Sessions sind die, bei denen man zunächst gar nicht so recht weiß, wohin die Reise geht. Die sich dann aber in eine Richtung entwickeln, die man gar nicht erwartet hatte und die Denkanstöße bieten, an die man nicht gedacht hat. So ging es mir mit der Denkreise von Angela Weißköppel von der HTW Berlin. Besonders erfrischend war dabei, dass es sich um den letzten Vortrag des ersten Tages handelte. Normalerweise ist man da ja nicht mehr so aufnahmebereit. Wenn der Vortrag aber gut ist, ist das plötzlich kein Problem mehr.
Angela Weißköppel sprach eine Tatsache an, die wir alle kennen. Dass nämlich die Planbarkeit und Steuerbarkeit von Transformationsprozessen nur beschränkt vorhanden sei. Für sie kommen daher zwei Wege ins Spiel, die im Titel des Vortrags widergespiegelt sind: der Versuch einer „Zähmung“ durch organisationstheoretische Modelle oder eine Offenheit und Flexibilität gegenüber nicht planbaren Prozessen.
Hochschulen sind Expert*innenorganisationen. Professor*innen und ihre Mitarbeitenden sind Fachexpert*innen und zum größten Teil nicht Organisationsexpert*innen. Eine Hochschule besteht aus Teilsystemen mit unterschiedlichen Handlungslogiken. Laut Weißköppel könnte man von einer organisierten Anarchie sprechen. Schwierigkeiten bei der Abstimmung von Strategien sind vorhersagbar. Der erste Weg scheint also nicht unbedingt zum Ziel zu führen.
Beim zweiten Weg bezog sich Weißköppel auf ein Buch des Wirtchaftswissenschaftlers Christian Busch mit dem Titel „Erfolgsfaktor Zufall“. Busch schreibt darin über den englischen Begriff „serendipity“, der im Deutschen mit „glücklicher Zufall“ übersetzt werden kann. Er ist davon überzeugt, dass ein Raum geschaffen werden kann, in dem glückliche Zufälle wahrscheinlicher gemacht werden können. Dementsprechend übertrug Weißköppel in ihrem Vortrag diesen Begriff auf die Hochschulen. Unter den Voraussetzungen, glückliche Zufälle wahrscheinlicher zu machen, finden sich hier z. B. eine offene Fehlerkultur, also ein Lernen aus Fehlern, und die Förderung von Zufällen über viel Netzwerkarbeit. Wenn sich unterschiedliche Expertisen im Verborgenen halten, lassen sich nicht alle Potentiale ausschöpfen. Aus Weißköppels Blickwinkel eignen sich Hochschulen dabei besonders gut für diesen Ansatz, weil aufgrund ihrer Organisationsstruktur „wenig kaputt gehen kann“. Na, das ist doch mal eine Erkenntnis. 😀
Auf jeden Fall ist dieser zweite Weg ein interessanter Start zum Weiterdenken. Wie können Hochschulen Raum schaffen, um Serendipity zu ermöglichen? Und ist dieser Ansatz nicht sogar mit den Future Skills zu realisieren, die – wie ich am Anfang des Tages gehört habe – ohnehin zur zentralen Bildungsaufgabe von Hochschulen gehören müssen? Offene Fragen, die zur Diskussion anregen.
Im zweiten Teil des Rückblicks auf das University:Future Festival geht es dann um Open EdTech, Inklusion, psychologische Erkenntnis zu Selbstlernphasen, Prüfungskultur und noch einiges mehr. Schalten Sie also auch übernächste Woche wieder ein, wenn…