Dem lieben Kollegen, Herrn Professor Kirsch gewidmet.
"Der unbekannte Mozart", genauer, "Der weniger bekannte Mozart" - lautet unser heutiges Thema.
Meine Darlegungen beanspruchen keine Autorität, sie kommen von einem Liebhaber und sind auch an solche gerichtet. Trotzdem habe ich mich bemüht, das dargebotene Material zu prüfen, so sorgfältig wie ich konnte. Bei der Vorbereitung hatte ich das Glück, von einigen Fachleuten Hilfestellung zu erhalten, besonders tatkräftig aber von zwei illustren Kennern, Professor Robert Levin, Harvard und Professor Robert Marshall, Brandeis, denen ich dafür zum Dank verpflichtet bin.
Anstatt einer sachlichen Einleitung hören wir ein kurzes
Zitat,
darauf folgen einige Fragen.
Frage 1: Welche Instrumente sind vertreten?
Frage 2: Wer ist der Autor?
Frage 3: Was ist das für ein Stück?
Zur Antwort hören wir den 2. Satz des gleichen Stückes.
Nun, das ist Bach, die Fuge Nr. 14 in fis-moll
aus dem 2. Heft
des Wohltemperierten Klaviers. Mozart überarbeitete die Fuge
für ein Streichtrio (Violine, Viola, Violoncello)1und schickte eine eigene Einleitung - die wir eben gehört haben -
voraus.
So lautet unser erstes Thema: der Einfluss J. S. Bachs auf Mozarts
Schaffen.
Das zweite Thema ist, zumindest symbolisch, auch durch das
eben Gehörte gezeichnet. Von dieser Gattung -
dem Streichtrio -
kenne ich von Mozart nur drei Werke, alle absolut großartig, aber nur
eins davon vollendet,
die anderen zwei sind großangelegte Fragmente, Torsi.
So ist der zweite Teil Mozarts unvollendeten
Werken und der Aufgabe
ihrer Vervollständigung gewidmet, an der seit Mozarts Tod
bis heute gearbeitet wird.
Mozart und Bach. Obwohl Mozart noch als Knabe den jüngsten Bach, den Johann Christian, kennengelernt hat, mit ihm verbunden blieb und von ihm beeinflusst wurde, haben wir keine eindeutige Angabe, dass er den alten Bach kannte bis zum Anfang der Achtziger Jahre, als er in den Kreis des Wiener Musik-Liebhabers und Mäzen van Swieten getreten war.2 Mozart schreibt an seine Schwester Nannerl: 'ich gehe alle Sonntage um 12 Uhr zum Baron van suiten - und da wird nichts gespielt als Händl und Bach - ich mach mich eben eine Collection von bachischen fugen so wohl Sebastian als Emmanuel und friedeman Bach.'
Und für diesen Liebhaber-Kreis überarbeitet er 6 dreistimmige 'bachische Fugen' zu denen er vier eigene Präludien schreibt (KV404a). Alsdann für das Streichquartett weitere 6 Fugen (KV405). Im ersten Fall ist die Autorschaft Mozarts durch das vorhandene Autograph nicht gesichert, von einigen Autoren auch in Frage gestellt.3 Von den Quartett-Fugen existiert dagegen das Autograph.
Der Begriff 'Fuge' wird im folgenden
immer wieder vorkommen. Für weniger Bewanderte: Es ist eine Komposition,
wo ein markantes Thema zeitversetzt in verschiedenen Stimmen
vorkommt (ähnlich wie in einem Kanon), dabei dominiert die selbständige
Führung einzelner Stimmen im Gegensatz zur geläufigeren 'harmonischen'
Gestaltung. In diesem Zusammenhang werden oft Begriffe wie Polyphonie
oder Kontrapunkt gebraucht. Bach gilt als der größte Meister der Fuge
überhaupt.
Nun war Bach nicht nur zur Zeit Mozarts sondern schon zur Zeit seines Lebens,
wie jemand sagte,
ein 'posthumer Musiker', die dominierende Ausrichtung war das galante
Rokoko, in das Mozart hineingeboren wurde.
Bach kannten und schätzten nur Wenige, darunter die Kreise am Berliner
Hof, von wo van Swieten in seiner Eigenschaft des Gesandten
seine Informationen erst erhielt und alsdann
das Bachsche Material - hauptsächlich das instrumentale -
besorgte.4
Diese Mozartschen Bach-Bearbeitungen sind auch heute Gegenstand der musikologischen Untersuchungen, insbesondere die Tatsache, dass Mozarts Text sich stellenweise vom Bachs Original unterscheidet. Zuerst meinte man, es handele sich um Mozarts eigenwillige 'kreative' Eingriffe, aber es stellte sich heraus, dass die Abschrift die Mozart als Vorlage diente, fehlerhaft war, was eine Korrektur nötig machte. Mozarts Lösungen unterschieden sich zwar vom Original, werden aber als 'erstaunlich geschickt' eingestuft.
Diese Auseinendersetzung mit Bach provozierte eine gewisse Krise in Mozarts Schaffensweise. Zwar war Mozart bereits auch im Kontrapunkt bewandert und benutzte es vornehmlich in seinen vokalen geistlichen Werken. Traditionell wurden damals einige liturgischen Texte wie Cum sancto spiritu, Et vitam venturi saeculi, Sicut erat in principio oft fugiert in einem archaischen Stil - im Gegensatz zu homophon, ja 'galant' konzipierten anderen Teilen. Diesen Dualismus versuchte Mozart immer schon auf seine Weise zu überwinden.5Nun war er konfrontiert mit Bachschen Fugen und Orgeltrios, einer gigantischen Synthese von Harmonie und Kontrapunkt. Er schreibt gleich mehrere Fugen, von denen viele unvollendet bleiben. Technisch vollendet, als wollte Mozart die Bachsche Fugenkunst übertrümpfen, erreichen sie die Höhe Bachs nicht, auch deshalb nicht, weil Mozart - sonst einem begnadeten Melodienschöpfer - hier eines noch fehlte: die Schlagkraft und Vielfalt Bachscher Themen (singe ein Paar WTK-Themen). Offenbar brauchte auch Mozart etwas Zeit, um starke Eindrücke zu verarbeiten.
Wir hören aus der Bachschen E-Dur-Fuge in Mozarts Bearbeitung für das
Streichquartett.
Man beachte den sicheren Geschmack,
mit dem Mozart die Bachschen Fugen wählt.
Etliche Bachsche Fugen - nicht alle - sind durchaus
instrumental ambivalent. Man kann das an eben diesem Stück beobachten,
wenn man es erst am Cembalo, dann auf dem Klavier und schließlich
so in Mozartschen Bearbeitung erlebt.
Ich kenne nur 2 Mozarts instrumentale Fugen, die, mit seinen
eigenen Maßstäben gemessen, als Höhepunkte gelten,
davon die letzte eingebettet in 2 Episoden in seiner Phantasie in f-moll, geschrieben
für eine Orgelwalze im 'Kuriositätenkabinett' eines Grafen von Deym
alias Müller.
Solche Aufträge nahm er widerstrebend und nur des Geldes wegen an,
indem er sich über jene
Musikautomaten abfällig äußerte. Aber wie so oft bei ihm hat er in der Arbeit
den 'Uhrmacher' und sein Orgelchen vollkommen vergessen;
es entstand ein großartiges Werk, das erst an großen Orgeln
würdig aufgeführt wird. Wir hören den Schluss.
Das Bachstudium machte Mozart zu einem der
größten Polyphoniker überhaupt, wie das aus seinem ganzen
Oeuvre nach 1782. zu sehen ist. Dabei sind
überwiegend polyphon konzipierte Sätze selten, darunter
der letzte Satz seiner Jupiter-Sinfonie
sowie einige Vokalsätze aus dem Requiem oder aus der c-moll Messe,
vielmehr tritt das Polyphonische
integriert im Gesamtfluss auf - dies ist gewissermassen auch in
der eben zitierten Phantasie der Fall. Meistens aber tritt
bei ihm die Polyphonie episodisch oder ganz versteckt auf.
Wir hören aus dem Finalsatz von G-Dur Quartett Nr. 14:
Dies ist nun keine Nachahmung mehr, kein
Übertrumpfenwollen,
auch keine - legitime - Anleihe, es ist Mozarts ureigene
Expression.
Die Begegnung mit Bachs
vokaler Musik erfolgte erst 1789 in Leipzig,
wo Mozart den Greis Johann Friedrich Doles, Bach-Schüler
und -Nachfolger als Thomaskantor besuchte. Doles schätzte
Mozart, führte ihn gleich zu seiner gerade neugebauten Orgel
und ließ ihn improvisieren. Mozart zu Ehren bedienten Doles und
der Organist Görner Register. Doles war begeistert, es war ihm, sagte er,
als ob er seinen alten Lehrer Sebastian Bach hören würde. Doles rief
seine Sänger zusammen und diese sangen Bachs 8-stimmige Motette
'Singet dem Herrn ein neues Lied', deren Handschrift ehrfürchtig
bei St. Thomas aubewahrt wurde. Mozart sagte man offenbar nicht,
was gesungen werden würde, weil er nach den ersten Takten
ausrief: 'Was ist das?' und wurde ganz Ohr.
Am Ende wollte er die Noten sehen; da keine Partitur vorhanden war,
gab man ihm Stimmen: Diese breitete er auf den Knieen und den
Stühlen aus und stand nicht auf bis er alles durchgesehen hatte.
Gleich erbat er eine Abschrift, dies wurde offenbar auch gemacht, denn
in Mozarts Nachlass existiert eine solche Abschrift,
deren erste Seite hier zu sehen ist.
Darauf steht mit Mozarts Hand vermerkt:
"NB. müsste dazu ein ganzes orchestre gesetzt werden".
Dies bezeugt, dass Mozart sich mit Bach bis zu
seinem Lebensende beschäftigt hat.
Auf eine eigenartige Verbindung mit Bach weist das folgende Zitat hin:
Dies ist 'Der Gesang der Geharnischten' aus der Zauberflöte,
das Choralthema kommt bei Bach oft vor und auch die Begleitung ist
ganz im Bachschen Stil.
Beim Abschied von Leipzig bat man Mozart vielmals, etwas als Andenken
zu schreiben. So schrieb er seine Giga in G-Dur,
ein liebenswürdiges 'hommage à Bach':
Ich habe lange überlegt, was ich zu all dem zusammenfassend
sagen soll. Bis ich die Passage von R. Marshall gefunden hatte:
'Mozarts Begegnung mit Bach war nicht so sehr ein Entdecken
als vielmehr ein Erkennen.
In Bachscher Musik erkannte Mozart Erfüllung und Verkörperung
vieler seiner eigenen künstlerischen Impulse. In der zugleich kompromisslosen
und komplexen Sprache Johann Sebastian Bachs entdeckte er nicht jemanden,
der ihm Vergangener, Anderer, Fremder war, sondern einen bis dahin weitgehend
unerkannten und unentwickelten Teil seiner eigenen musischen Persönlichkeit
- schlichtweg: sich selbst'.
Fragmente. Das ist ein sehr umfangreiches Thema. Wir wollen an wenigen besonders bedeutenden Beispielen zeigen, wie komplex, herausfordernd, ja hochaktuell, die Problematik ist, um die es dabei geht.
Unter Fragmenten verstehen wir hier keine Skizzen, auch keine als untauglich verlassene - auch umfangreichere - gestrichene Passagen, sondern Texte von eigenständiger Bedeutung, oft ihren 'vollendeten Zeitgenossen' zumindest ebenbürtig. Davon gibt es bei Mozart eine gigantische Zahl, man nennt die Ziffer 140!
Mozart schrieb in der Regel für eine konkrete Gelegenheit,
bzw. einen konkreten Spieler oder Sänger. Wenn das eine oder das andere
sich nicht mehr anbot, legte er es erstmals beiseite.
Mit den heutigen Hilfsmitteln konnte man inzwischen
feststellen, dass manches als vollständig geltende Werk
eine zeitlang als Fragment existierte und erst
viel später - von anderen oder von Mozart selbst -
vollendet worden war.
Wir hören aus einem Fragment.
Es ist das Fragment eines Streichtrios in G-Dur,
bestechend durch den ausgereiften Kammerstil und die je eigene Sprache
eines jeden Instruments.6
Viel schmerzhafter ist das folgende Fragment.
Dies ist der Anfang einer Sinfonie concertante in A-Dur, für Violine, Viola, Cello(!) und Orchester.
Die Vervollständigung musste die ganze Reprise konstruieren.
Der (mir unbekannte) Bearbeiter entschloss sich für eine m.E. sympathische
Lösung: das noble Hauptthema wurde anstatt vom Orchester
nunmehr vom Cello vorgetragen:
-- ein Leckerbissen für jeden Cello-Solisten!
Unser drittes Beispiel gehört auch einer seltenen Gattung an.
- ein großangelegtes Konzert für Violine, Klavier und Orchster in D-Dur, abgebrochen mitten im ersten Satz. Der Komponist Philip Wilby vollendete diesen ersten Satz und fügte die letzten 2 Sätze der großen D-Dur Sonate aus der gleichen Zeit, in der Orchesterbearbeitung hinzu. Diese wirkt sehr überzeugend auch deshalb, weil der letzte Satz eine Originalkadenz enthält.
Die Arbeit an Mozarts instrumentalen Fragmenten dauert an,
vor kurzem hat Robert Levin eine kleine Sammlung der Sonatensätze
für Violine und Klavier in seiner Vervollständigung
herausgegeben.7
Der Rest unserer Darlegungen ist zwei grossen unvollendet gebliebenen vokalen Werken gewidmet: Requiem und c-moll-Messe. Diese letztere - auch so unvollendet - halten viele für eine Brücke zwischen der Bachschen h-moll Messe und der Missa solemnis Beethovens. Wir nehmen uns jeweils nur einen Satz vor, weil jede auch halbwegs vollständige Darlegung unseren Rahmen weit sprengen würde. Die Bearbeitung ist von einem völlig anderen Kaliber, wo ein ganzer Satz hinzugefügt werden soll. Das einzige, was vorgegeben ist, ist der Messtext. Dabei wird jede, auch die kleinste Skizze von grossem Wert sein.
Das Requiem ist zu uns gekommen in der traditionellen Vervollständigung des Mozart-Schülers Süssmayer. Er beendet den Lacrimosa-Satz mit einem einfachen zweisilbigen Amen.
Nun würde man hier nach der Tradition (der Mozart in seinen sakralen
Werken stets treu bleibt) mit Sicherheit eine Fuge erwarten, einen
monumentalen Abschluss.
In der Tat wurde erst 1962
das folgende Blatt aus Mozartscher Hand gefunden,
auf dem eine Skizze zu 'Rex tremendae' aus dem Requiem und die Skizze einer Fuge auf den Text 'Amen' standen.
Dabei steht das Fugenthema in genauer Inversion zum Leitthema
des Requiems (singe die beiden Themen) und ist auch sonst
mit dem vorhandenen thematischen Material verbunden:
Mehrere Komponisten haben in den letzten
Jahrzehnten diese Skizze zur vollen
Fuge ausgeführt8 und zugleich auch eigene Vervollständigungen
des gesamten Requiem-Fragments geliefert.
Ich habe mich hier für diejenige von Robert Levin
entschieden, welche für besonders nahe der Mozartschen Sprache gehalten wird
und auch sonst die Süssmayersche Bearbeitung nur behutsam revidiert.
Wir vergleichen die beiden Vollendungen. Zuerst die klassische
Version Süssmayers:
Alsdann die Levinsche Fuge (man beachte die maximal schonenden
Korrekturen Levins an den Süssmayerschen Vorbereitungstakten):
Hieraus lässt sich erahnen, was für Potential dieses
letzte unvollendete Werk Mozarts in sich birgt.
Es war kein Abschluss seines Schaffens, sondern ein
gewaltiger Aufbruch, zum brutalen Abbruch
machte es Mozarts Tod.
Und das schönste dabei: Man braucht
all diese technischen Details nicht zu kennen, um es zu
lieben und immer aufs neue zu bewundern.
Und nun zur c-moll-Messe. Der Credo-Satz hört nach dem bezaubernden
'Et incarnatus est' (Sopran solo) auf. Der Rest fehlt.
Robert Levin erwartet auch hier eine Fuge auf den Text
'Crucifixus etiam pro nobis sub Pontio Pilato'. Das Fugenthema fand er
auf einer Mozarts Skizze, es war der Anfang einer 8-stimmigen,
offenbar vokalen, Fuge - aber ohne Worte.
Das Thema konnte den vorgegebenen Text aufnehmen, außerdem
entsprachen Papier und die Tinte denjenigen aus dem Autograph
der c-moll Messe:
In ähnlichem Geist vervollständigte Levin die ganze Messe. Dabei griff er u.a. auf das Oratorium 'Davide penitente' zurück, wo Mozart Teile der c-moll-Messe einbaute, indem er dort Mozarts hinzukomponierte Teile zurückholte und über die fehlenden Messtexte legte.