Termin: 09.03.2017
Hans Kelsen gilt als Schöpfer der modernen Gesetzesprüfung, das in der österreichischen Bundesverfassung von 1920 verwirklichte Modell der Verfassungsgerichtsbarkeit trägt seinen Namen. Weniger bekannt ist, dass er diese Institution auch als Richter entscheidend prägte: Von 1919 bis 1930, also in den Anfangsjahren, war er Mitglied und ständiger Referent des österreichischen Verfassungsgerichtshofes. Seine richterliche Tätigkeit straft manch gängiges Vorurteil über den Rechtspositivismus Lügen: Er verstand sein Richteramt als politisches Mandat, das er konsequent in den Dienst der jungen Demokratie und des neu begründeten Bundesstaates stellte. Manche der von ihm entwickelten Leitlinien – etwa das Gebot der Reinheit der Wahlen oder der Totalvorbehalt des Gesetzes – prägen die Rechtsprechung bis heute; andere wie sein Eintreten für Geschlechtergleichheit und Ehescheidung waren die Ursache, dass Kelsen, wiewohl auf Lebenszeit ernannt, im Gefolge der Verfassungsnovelle von 1929 sein Amt verlor.
Prof. Dr. Ewald Wiederin: geboren 1961. 1984 Doktorat der Rechtswissenschaften an der Universität Wien, 1995 Habilitation ebendort. 2000-09 Universitätsprofessor an der Universität Salzburg; 2003-05 Mitglied des Österreich-Konvents; seit 2009 Universitätsprofessor für öffentliches Recht an der Universität Wien. Richter ad hoc am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg, Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.