Citizen Science: Bürgerinnen und Bürger stärken Forschung

Eine Erhebung zu politischen Botschaften im öffentlichen Raum fragt: Wie positionieren sich Menschen zum Angriffskrieg auf die Ukraine?


Foto: Kutay Tanir, DigitalVision, Getty Images
Mitten in der Datenerhebung ist das Lehrgebiet Sozialpsychologie mit einem Projekt zu politischen Botschaften im öffentlichen Raum. Wie positionieren sich Menschen zum Angriffskrieg Russlands? Wie solidarisieren sie sich mit der Ukraine?

Tausende Menschen sammeln, messen und bewerten, fotografieren und dokumentieren Blutzuckerwerte, Pflanzen, Botschaften und Vieles mehr. Bezeichnet werden sie als Bürgerforscherinnen und Bürgerforscher. Ein Ansatz, für den sich die Bundesregierung aktuell mit einer Förderaussage im Koalitionsvertrag stark macht und der an der FernUniversität in Hagen immer mehr Fahrt aufnimmt.

Foto: FernUniversität/Volker Wiciok
Die Psychologinnen Dr. Sybille Neji, Michaela Muermans und Jennifer Raimann (v.l.) haben mit Hilfe ihrer Studierenden dazu aufgefordert, politische Botschaften im öffentlichen Raum zu fotografieren.

Politische Botschaften im öffentlichen Raum

Noch mitten in der Datenerhebung ist das Lehrgebiet Sozialpsychologie von Prof. Dr. Stefan Stürmer mit einem Projekt zu politischen Botschaften im öffentlichen Raum. Wie positionieren sich Menschen zum Angriffskrieg Russlands? Wie solidarisieren sie sich mit der Ukraine? Psychologiestudierende motivieren aktuell Bürgerinnen und Bürger in Deutschland und zum Teil auch im Ausland dazu, politische Botschaften im öffentlichen Raum zu fotografieren. Die Citizens werden im privaten Umfeld gefunden, aber auch mit Videos und Postings über Social Media bis hin zu lokalen Kiezspaziergängen.

Von der blau-gelben Flagge am Bahnhof über ein Banner einer kirchlichen Einrichtung, vom Plakat im Modegeschäft bis zu blau-gelben Blumen und zum blau-gelben Friedensengel vor der Haustür: Innerhalb von vier Wochen wurden bei einer ersten Erhebung bereits mehr als 150 Fotomotive hochgeladen.

Aktuelle Erhebung zu politischen Statements im öffentlichen Raum

Aktuell beschäftigen sich drei studentische Gruppen mit politischen Botschaften im öffentlichen Raum. Ihre Erhebungsstrategien, um Citizens zu informieren und zu begeistern, sind unterschiedlich. Das Spektrum reicht von der mehrsprachigen Erhebung in mehreren Ländern über Aufrufe in Social Media bis zu lokalen Kiezspaziergängen.

  • Bürgerwissenschaften: Politische Botschaften im öffentlichen Raum: Jetzt mitforschen
  • Sozialpsychologie meets Citizen Science, Einfluss von Einstellungen und Identität: Jetzt mitforschen
  • Solidarität am Laternenpfahl, Einfluss von Bildungseinrichtungen: Jetzt mitforschen

„Das war ein erster Test. Für den kurzen Erhebungszeitraum sind wir positiv überrascht, wie viele Einsendungen wir erhalten haben“, berichten die Wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Michaela Muermans und Dr. Violetta Schaan. Gemeinsam mit Dr. Jan-Bennet Voltmer, Jennifer Raimann und Dr. Sybille Neji haben sie das Wahlseminar im Master-Studiengang im Sommersemester 2022 geleitet. „Es geht auch darum, Wissenschaft aus dem Elfenbeinturm zu holen“, so das Team. „Bürgerinnen und Bürger lernen etwas über das beforschte Thema und bekommen direkt Einblicke in den Forschungsprozess.“

Die Fortsetzung läuft aktuell in einem zweiten Seminar. In der Reflexion sollen die politische und soziale Komponente der Botschaften herausgearbeitet werden. Welche Rolle spielen Bildungsgrad und Wohlstand der jeweiligen Fotoregion? Wie hängen die Wahlbeteiligung und die Entfernung zur Ukraine mit der Häufigkeit und der Wahrnehmung der Botschaften zusammen? „Nicht die Studierenden und die Citizens sind die Subjekte der Studie, sondern die politischen Meinungsäußerungen im öffentlichen Raum“, betont Jan-Bennet Voltmer. „Das ist aus Sicht der Psychologie durchaus herausfordernd, denn wir befragen ja normalerweise Menschen.“

Digitalisierung im öffentlichen Sektor

Der Lehrstuhl für BWL, insbes. Informationsmanagement von Prof. Dr. Till Winkler hat bereits zwei Seminare zur „Digitalisierung im öffentlichen Sektor“ angeboten. Die Studierenden haben Daten zur Qualität von hybriden Dienstleistungen in öffentlichen Verwaltungen gesammelt. Vom Beantragen eines neuen Personalausweises bis zum Stellen einer Strafanzeige bei der Polizei: Die Teilnehmenden befragten in ihrem privaten Umfeld mindestes drei Bürgerinnen und Bürger zu einem kritischen Dienstleistungserlebnis und führten zusätzlich ein qualitatives Tiefeninterview. „Der Citizen-Science-Kontext wurde dabei thematisch und methodisch im Sinne des forschenden Lernens abgedeckt“, erklärt Till Winkler. „Einerseits haben wir Bürgerinnen und Bürger direkt in die Forschung involviert. Andererseits geht es um die Wahrnehmung von Dienstleistungen aus Sicht der Menschen.“

Sein Wissenschaftlicher Mitarbeiter Fabian Walke hat vorab einen Fragebogen entwickelt, um die Qualität von hybriden Dienstleistungen im öffentlichen Sektor messbar zu machen. Dieser ist inzwischen evaluiert und publiziert. „Unser Messinstrument deckt ein breites Spektrum ab“, sagt Walke. „So lassen sich unterschiedliche Behörden miteinander vergleichen.“

Foto: FernUniversität/Volker Wiciok
Der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Till Winkler misst die Qualität von hybriden Dienstleistungen bei Behördengängen.
Erste Erkenntnisse liegen bereits vor. „Die Prozesse sind der stärkste Hebel, um die wahrgenommene Dienstleistungsqualität zu verbessern“, fassen Winkler und Walke zusammen. „Sie stehen noch über den anderen Dimensionen Mensch, Technologie und Information.“ Daten und Ergebnisse ihres Projekts „Qualitätszentriertes E-Government“ bringen sie in das neue, noch im Aufbau befindliche Forschungsinstitut Arbeit – Bildung – Digitalisierung (FI-ABD) ins Feld Verwaltung ein. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Behörden ihre Dienstleistungen qualitätszentrierter anbieten und digitalisieren können. „Dank unserer Citizen-Science-Initiative steigen wir mit einer guter Datenbasis ein“, sagt Winkler. „Wir haben pro Seminar circa 120 Datensätze gewonnen, hinter denen belastbare Erfahrungen einzelner Bürgerinnen und Bürger stehen.“

Gewinn für alle Beteiligten

Der Anfang ist trotz vieler Herausforderungen gemacht. Und die Erfahrungen zeigen: Citizen Science ist für alle Beteiligten ein Gewinn. Die Studierenden nehmen frisches Methodik-Wissen mit aus den Seminaren. Dieses wird ihnen zukünftig beim wissenschaftlichen Arbeiten, insbesondere den Abschlussarbeiten, nützlich sein. „Die eigene Arbeit verschwindet nicht im Papierkorb, sondern geht in etwas Größerem auf“, verweist Till Winkler auf die zusätzliche Motivation, die mit dem Ansatz verbunden ist. „Viele wissenschaftliche Fragestellungen könnten wir alleine nicht untersuchen“, ergänzen die Psychologinnen Michaela Muermans und Violetta Schaan. „Wir sind dafür auf Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Der beidseitige Nutzen ist für die Wissenschaft bereichernd.“

Daher setzen der Lehrstuhl für Informationsmanagement und das Lehrgebiet Sozialpsychologie auch in Zukunft auf Citizen Science. Weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der FernUniversität sind ebenfalls bereits auf diesem Gebiet aktiv oder haben Interesse bekundet, entsprechende Initiativen zu starten. „Wir wollen bürgerwissenschaftliche Perspektiven aus der Gesellschaft stärker in unsere Forschung einbeziehen. Damit unterstützen wir die Durchlässigkeit im gesamten Wissenschaftssystem“, sagt Prof. Dr. Stefan Smolnik, Prorektor für Forschung und Digitalisierung. „Dieser methodische Ansatz passt sehr gut zur FernUniversität. Denn unsere rund 71.000 Studierenden sind ja auch alle Bürgerinnen und Bürger.“ Mit Citizen Science tragen sie als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren zu Forschungsprozessen und wissenschaftlichen Ergebnissen aktiv bei. Perspektivisch könnten auch die FernUni-Campusstandorte als regionale Ankerpunkte für Citizen-Science-Aktivitäten einbezogen werden – zum Beispiel in Form von Zukunftswerkstätten.

Das könnte Sie noch interessieren

Carolin Annemüller | 19.12.2022