Ganz schön hässlich
Die philosophische Ästhetik widmet sich der sinnlichen Erkenntnis. Um Schönes zu identifizieren, muss sie auch eingrenzen, was hässlich ist. Jessica Güsken hat dazu promoviert.
Schönheitsideale – um ihnen näherzukommen, arbeiten Menschen hart an sich selbst. Diätprogramme, Instagram-Filter, Kosmetik, Fitness oder plastische Chirurgie sollen dabei helfen, Merkmale zu kaschieren, die gemeinhin als hässlich wahrgenommen werden. Gefälliges von Hässlichem trennen zu können, das hat sich die Gesellschaft über etliche Generationen hinweg antrainiert. Wichtige Wegbereiter waren dabei die Werke der philosophischen Ästhetik von 1750 bis 1850. Sie erhoben die sinnliche Wahrnehmung zu einem neuen Leitstern. Um die abstrakten Theorien überhaupt vermitteln zu können, waren anschauliche Beispiele nötig – vom Schönen wie vom Hässlichen. „Beispiele dienen der disziplinierenden Einübung bestimmter Wertungen, also des sogenannten ‚guten‘ Geschmacks. Sie müssen am eigenen Leib, der eigenen Erfahrung nachvollzogen werden, um von den Sätzen der Theorie zu überzeugen“, erklärt Dr. Jessica Güsken von der FernUniversität in Hagen. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin hat ihre Dissertation zur philosophischen Ästhetik geschrieben.
Beispiele führen aus dem reinen Text heraus, setzen Körper und Sinne der Lesenden in Bewegung, so die Forscherin. Ziel sei die Ausbildung des „Menschen von Geschmack“. „Wer sagt mir denn überhaupt, dass Falten hässlich sind?“, zeigt Güsken die Wirkmacht dieser ästhetischen Prägung auf. „Ein Beispiel wird immer und immer wieder gebracht. Und irgendwann hinterfrage ich meinen ästhetischen Blick gar nicht mehr.“ In ihrer Forschung interessiert sie sich generell für Beispiele und deren kulturellen Einfluss. Sie ist sich sicher: „Beispiele sind nicht zu unterschätzen. Sie sind auf sämtlichen Wissensgebieten unverzichtbare Agenten der Herstellung und Sicherung von Evidenz.“
Humanistisches Erziehungsprogramm
Aber was bedeutet „ästhetisch“ überhaupt? Umgangssprachlich benutzen Menschen das Wort, wenn sie etwas schön und ansprechend finden. Von ihrer wissenschaftlichen Warte aus fasst Güsken den Begriff jedoch weiter: „Ästhetik kommt vom altgriechischen ‚aísthēsis‘ – das bedeutet sinnliche Wahrnehmung und Sinnlichkeit überhaupt. So sieht es dann auch der Erfinder der philosophischen Ästhetik: Alexander Gottlieb Baumgarten veröffentlicht 1750 sein Buch Aesthetica. Er nennt die Ästhetik darin die ‚Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis‘. Da hört man schon: Es geht nicht an erster Stelle um Schönheit!“
Inmitten der Epoche des Rationalismus, der sich vor allem am logischen Denken orientierte, forderte Baumgarten plötzlich, dass ebenso das sinnliche Erleben der Welt geschult werden müsse. „Er meint das auch im Sinne eines humanistischen Bildungsideals des Menschen, mit einem moralischen Impetus“, so Güsken. Die Menschheit soll nicht nur in der Lage sein, Schönes zu erkennen, sondern es auch selbst herstellen können. „Die Ästhetik war immer schon auch eine Erziehungslehre. Die Untersuchung der Beispiele, die für das Hässliche gebracht werden, erlaubt Einsichten in die diskriminierende, sexistische, rassistische Kehrseite des humanistischen Bildungsideals der Aufklärung.“
Extreme Beispiele
In ihrem Buch blickt Güsken auf besonders tradierte Beispiele, anhand derer die Ästhetik ein ums andere Mal erklärt hat, was hässlich und hassenswert sei – etwa die Vettel. „Die Vettel ist ein altes, stinkendes, sexuell exzessives Weib. Sie wird von den Autoren der Ästhetik immer wieder als Paradebeispiel für das Ekelhafte angeführt“, erklärt die Forscherin. In der Ästhetik gilt sie nicht nur als körperlich abstoßend, sondern auch als moralisch verkommen. Neben der liederlichen Komponente wohnt dem Beispiel jedoch auch etwas Lächerliches inne, das teils voyeuristische Blicke anzieht: „Über Hässliches kann man eben auch lachen. Das weiß schon die antike Tragödie.“
Bilder, die verletzen
Das Spektrum der hässlichen Beispiele ist breit und reicht von Reptilien über Pflanzen bis zu Verwestem. „Viele Beispiele des Hässlichen beziehen sich jedoch auf Körper“, so Güsken. Dabei entlarven sich heutzutage einige der beschriebenen Muster als toxisch – so wie die Vettel: Sollten sich alte Frauen wirklich für ihren Körper schämen, ihre Sexualität unterdrücken, womöglich ganz aus der gesellschaftlichen Wahrnehmung verschwinden? In ihrem Buch thematisiert Güsken auch, inwieweit manche Beispiele belastet sind: „Als ich mir angeschaut habe, was ins Reich des Schönen darf und was nicht, bin ich auf die Kehrseite des guten Geschmacks gestoßen: Normative Vorstellungen, die in ihrem Kern sehr schnell sexistisch und rassistisch sind.“
Vom humanistischen Bildungsideal des Schönen seien diese verletzenden Bilder nicht ablösbar. Teils kommen sie von Werk zu Werk extremer daher – etwa bei Lessing mit kolonialistischer Modifikation: „Lessing nimmt Bezug auf eine britische Geschichte, in der eine junge ‚Hottentotten‘-Braut mit den Merkmalen einer alten Vettel beschrieben wird.“ Die unzivilisierte Frau sei sich ihrer eigenen Hässlichkeit jedoch nicht bewusst – darin sieht Lessing eine lächerliche Fallhöhe.
Das Buch
Jessica Güsken: Beispiele des Hässlichen in der Ästhetik. (1750-1850). Göttingen: Wallstein Verlag 2022. Zur Verlagsseite
Politische Komponente
„Eine Agenda hatten die Ästhetiker bei solchen Beispielen sicher nicht – sie waren Kinder ihrer Zeit“, verweist Güsken auf den historischen Zusammenhang. Problematisch erscheint ihr, die anhaltende Wirkung mancher Beispiele: „Wir gucken immer ‚aufgeklärt‘ auf diese Zeit, aber haben uns selbst eigentlich erschreckend wenig von den damaligen Normen entfernt.“ Generell ist der politische Einfluss des ästhetischen Bildungsprogramms nicht zu unterschätzen. Noch heute ordnen Menschen ihre Lebenswirklichkeit entlang sinnlicher Eindrücke – etwa, wenn es um die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen geht. „Man kann Arbeiter und Bürgerliche, aber eben auch Punks und Hip-Hopper ganz klar an Kleidungscodes, Sprechweisen und so weiter unterscheiden“, so Güsken.
Einbettung in größeres Projekt
Nach jahrelanger Forschungsarbeit ist Jessica Güsken glücklich über die fertige Dissertation. Sie stellt nicht nur einen persönlichen Meilenstein dar: Ihr Buch ist zugleich ein zentrales Ergebnis des gemeinsamen Projekts „Das Beispiel im Wissen der Ästhetik (1750-1850). Erforschung und Erfassung einer diskursiven Praxis“, das bis 2020 am Hagener Institut für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft vorangetrieben wurde. Aus dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Vorhaben ging unter anderem die wissenschaftliche Reihe „z.B. Zeitschrift zum Beispiel“ und ein digitales Beispiel-Archiv hervor. Zusammen mit Prof. Dr. Michael Niehaus und Prof. Dr. Peter Risthaus arbeitet Dr. Jessica Güsken noch an einem zweiten umfangreichen Werk, das 2023 erscheinen soll. „Hierin geht es um Beispiele des Naturschönen in der philosophischen Ästhetik“, kündigt die Forscherin an. „Das Buch wird also in gewisser Weise das Gegenstück zu meiner Dissertation.“
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