„Die Massen billig füttern“

Nina Mackert ist neue Gender-Gastprofessorin an der FernUni. Als Historikerin blickt sie auf Körper, Gesundheit und Ernährung. Derzeit forscht sie zur Geschichte der Kalorie.


Frau zwischen Supermarktregalen Foto: David-Espejo/Moment/Getty Images
Oft sind es die Kalorienangaben, die entscheiden, zu was wir im Supermarkt greifen.

„Ich bin gerne on the road“, bekennt Dr. Nina Mackert im Gespräch. Zuletzt hat es sie von Leipzig nach Hagen an die FernUniversität verschlagen: Hier ist sie von September bis Ende Dezember Gender-Gastprofessorin im Lehrgebiet Geschichte der Europäischen Moderne von Prof. Dr. Alexandra Przyrembel. „Meine Gastprofessur steht unter den Schlagworten Körpergeschichte und Rassismus“, erklärt die Historikerin. Beide Begriffe seien über das Thema Gesundheit eng miteinander verwoben. Als Beispiel nennt Mackert etwa Diabetes, der in den USA im Laufe des 20. Jahrhunderts erst als typische Krankheit weißer, dann schwarzer Menschen galt. Fernstudierende können im aktuellen Semester mehr über Mackerts komplexes Forschungsfeld erfahren. „Ich gebe eine Einführung in die Körpergeschichte und ein Seminar zur Geschichte von Gesundheit und Rassismus“, stellt sie in Aussicht. „Außerdem richte ich im Frühjahr eine Konferenz aus zu ‚Klasse in der Körpergeschichte‘.“ Themen mit gesellschaftlicher Sprengkraft begleiten Nina Mackert seit jeher auf ihrer wissenschaftlichen Laufbahn.

Warum so problematisch?

„Ich habe in Hamburg studiert und 2012 in Erfurt promoviert“, erzählt die Forscherin. In ihrer Dissertation arbeitete sie zu Jugenddelinquenz in den USA nach dem 2. Weltkrieg. „Mich interessieren gesellschaftliche Problematisierungen.“ Warum kochen einzelne Themen zu bestimmten Zeiten so hoch, dass sie zum sozialen Spaltkeil werden? Für Mackert hat das viel mit narrativer Steuerung zu tun. „Es gab eine krasse Trennung der Delinquenz von Schwarzen und Weißen“, nennt Mackert ein Beispiel. „Bei den Weißen sprach man eher von ‚jugendlichem Aufbegehren‘, das als ganz normal und notwendig galt, während schwarze Jugendliche als ‚gesellschaftszersetzend‘ geframed wurden.“

Historie des Körperfetts

2019 wechselte sie an die Universität Leipzig. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin ist sie Mitglied im interdisziplinären Leipzig Lab: Global Health. „Mir war klar, dass ich als nächstes zu Ernährung forschen wollte – und zum ‚Dicksein‘“, erinnert sich Mackert zurück. „Auch da hat mich interessiert, welche Geschichte so ein spezifisches Problem der Gegenwart hat. Außerdem wollte ich besser verstehen, wie sich Menschen zu sich selber verhalten.“ Die Forscherin arbeitete viel zum Thema Körperfett – und fragte sich irgendwann, was eigentlich der Maßstab ist, anhand dessen Körper problematisiert werden. „Was bringt einen Menschen dazu, in der Mensa nicht den Donut auszusuchen, sondern die Nüsschen-Mischung?“ Ihre Antwort: die Kalorie.

Ausgerechnet(e) Kilokalorien

„Die Kalorie ist allgegenwärtig. Eine Geschichte der Kalorie gibt es allerdings noch nicht“, so Mackert. Deshalb machte sie sich daran, die berühmte Brennwerteinheit historisch zu betrachten. Die Spurensuche führte sie in die USA: „Die Kalorie wurde dort Ende des 19. Jahrhunderts von Ernährungswissenschaftlern, vor allem Männern, eingeführt, um Nährwerte zu messen – beeinflusst von der Thermodynamik, die damals en vogue war.“ Das Thema Abnehmen interessierte damals jedoch nicht. Im Gegenteil: „Es ging eher um die Frage, wie man die hungernde Arbeiterschaft möglichst billig füttern kann – ohne die Löhne zu erhöhen. Da war die Kalorie die perfekte Einheit.“ Den Forderungen der streikenden Massen konnten Wirtschaft und Politik fortan Ernährungstipps entgegenhalten. „Esst weniger Gemüse, lieber Haferflocken! Die sind billiger und machen satter.“

Portrait Foto: privat
Nina Mackert ist Expertin für Körpergeschichte

Perfekte Einheit fürs Konsumzeitalter

„Zur beliebten Diätmethode ist das Kalorienzählen dann erst in den 1910ern und 1920ern geworden.“ Zu dieser Zeit entwickelten die Menschen in Europa und Nordamerika die Obsession, ihre Körper zu kontrollieren. Anfangs waren es vor allem Männer, die den Optimierungsdruck verspürten. Dicksein wurde problematisiert – und dank der zählbaren Kalorie nunmehr mit Disziplinlosigkeit begründet. „Die Kalorie ist eine durch und durch kapitalistische Einheit. Einerseits, weil sie den Körper in gewisser Weise mit einer Maschine gleichsetzt. Andererseits, weil sie die Leute dazu anhält, härter an sich zu arbeiten. Außerdem ist sie die perfekte Einheit fürs Konsumzeitalter, weil sie ja auch zum Essen anreizt. Sie sagt: ‚Du kannst die Sahnetorte essen, wenn du danach nur Brühe zu dir nimmst.‘“ Widersprüchliches vereinen zu können, darin sieht Mackert ein wichtiges Erfolgsrezept der Kalorie.

Gender-Ungleichheit eingeschrieben

Wissenschaftliche Bedenken gegenüber der Kalorie gab es schon früh. Als Maßeinheit vereinfacht sie den hochkomplexen und sehr individuellen menschlichen Metabolismus stark. So kann ein frischer, selbstgemachter Gemüseauflauf genauso viele Kalorien zählen wie der frittierte Cheeseburger einer Fastfoodkette. „Das hat ihrem Siegeszug aber keinen Abbruch getan. Die Kalorie ist genau deshalb so attraktiv: Sie scheint Nahrung auf einen Nenner zu bringen.“ Peinlich genau differenzierte die Ernährungswissenschaft damals hingegen in puncto Geschlecht: „Die frühen Kalorien-Experimente sind von vorneherein von einer Geschlechterdifferenz ausgegangen. In geschlechtlich hochstilisierten Versuchen wurde gezeigt, dass Frauen angeblich weniger Kalorien brauchen.“ Während die Männer in den ersten Tests zum Kalorienbedarf Gewichte stemmten, sollten die Frauen zum Beispiel nähen. Die Wissenschaftler konstruierten damit letztlich ihre eigene Wahrheit und bestätigten eine vorgeformte gesellschaftliche Haltung. Für die gleichberechtigte Wahrnehmung von Geschlechtern hat das bis heute negative Folgen.

Wir wissen es eigentlich besser

Mackert findet es bezeichnend, wie hartnäckig sich der Kalorien-Kult hält, wider besseres Wissen: „Viele Ratgeber rücken immer noch die Energiebilanz in den Vordergrund, obwohl der Mythos des Kalorienzählens eigentlich wissenschaftlich längst entzaubert wurde.“ Ihrer Meinung nach lebt die Logik der Selbstkontrolle und Selbstvermessung sogar in vermeintlich alternativen Ernährungsweisen fort. Ihre persönliche Hoffnung legt Mackert deswegen auch weniger auf weitere Ergebnisse aus der Ernährungsforschung, denn auf „Body-Positivity“-Bewegungen, die körperliche Vielfalt bejahen – ganz unabhängig vom Geschlecht.

 

Vortrag von Nina Mackert:

Beef, Bohnen, Brühe - und Petit Fours! Eine politische Geschichte der Kalorie

Wann: 18. Oktober 2022, 18:15 Uhr

Wo: Gebäude 2 (Seminargebäude), Raum 1+2, FernUniversität, Universitätsstraße 33, Hagen

Worüber: So allgegenwärtig die Nahrungskalorie (noch?) in gegenwärtigen Diätratgebern ist, so wenig war bei ihrer Einführung im späten 19. Jahrhundert vom Abnehmen die Rede. Ernährungswissenschaftler suchten experimentell zu ergründen, wie viele Kalorien ein menschlicher Körper für welche Leistung brauchte. Reformerinnen lehrten Arbeiterfamilien, möglichst wenig Geld für möglichst viele Kalorien auszugeben. Erst einige Dekaden später wurde das Kalorienzählen als Diätmethode der Mittelklasse populär und zu einer Praxis, die weniger von Austerität als vielmehr von der Pflicht und Freiheit gekennzeichnet war, sich in der entstehenden Konsumgesellschaft selbst zu führen. Der Vortrag wirft Schlaglichter auf den Weg der Kalorie aus den Laboren der Ernährungswissenschaften in die alltäglichen Routinen von Menschen und zeigt, wie politisch Kalorienzählen ist.

Teilnahme Via ZOOM

Meeting-ID: 665 8861 8498 / Kenncode: 01548380

 

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