Alkohol als Wurzel allen Übels?
Mareen Heying und Vanessa Höving forschen zu Abstinenzbewegungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Viele wertvolle Quellen entdeckten die FernUni-Forscherinnen in der Schweiz.
Es gibt wohl keine Droge, die den europäischen Kulturraum so sehr geprägt hat wie Alkohol. Spätestens seit der Industrialisierung wird Trinken zum Breitenphänomen. Zwar zieht sich Alkoholismus auch damals schon durch alle sozialen Schichten – besonders sichtbar wird das Problem aber laut zeitgenössischen Quellen im prekären Arbeitermilieu mit seinen oft tristen Lebensbedingungen. Als Reaktion gründen sich im 19. Jahrhundert zahlreiche Abstinenzbewegungen. Für sie scheint klar: Schuld an struktureller Armut, Krankheit, Sittenverfall und Kriminalität ist allein die Trunksucht.
Historikerin Dr. Mareen Heying und Literaturwissenschaftlerin Dr. Vanessa Höving von der FernUniversität in Hagen forschen beide zu Trinkkultur und Abstinenz im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Im Juli besuchten sie die Schweiz für einen gemeinsamen Forschungsaufenthalt. Das sozialgeschichtliche Feld aus zwei Richtungen zu erschließen, birgt aus Sicht der Forscherinnen große Vorteile – für eigene Arbeiten, wie auch für kooperative Projekte. „Gerade weil wir beide ganz andere Fragestellungen im Kopf haben, ist es für uns sehr fruchtbar, dasselbe Material anzuschauen“, streicht Mareen Heying heraus.
Förderung durch FernUni
Die FernUniversität finanzierte die Forschungsreise im Rahmen des „Flexiblen Fonds Nachwuchs“ für Promovierende und Postdocs. „Die Schweiz ist aus mehreren Gründen für uns interessant“, freut sich Vanessa Höving über die Förderung. „Es gab im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert viele enge Kooperationen mit Deutschland, was die Antialkoholbewegungen angeht.“ Mareen Heying ergänzt: „In der Schweiz war die Abstinenzbewegung extrem stark. Deshalb sind hier auch viele relevante Quellen archiviert.“ Die beiden Forscherinnen fanden eine Fülle an Material – von Polizeiprotokollen über Broschüren und Flugblätter bis hin zu Vereinsschriften. Forschungsorte waren etwa das Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung in Worblaufen bei Bern, das Staatsarchiv Basel oder das Sozialarchiv in Zürich.
Erziehung setzt früh an
Die Antialkoholbewegungen verfolgen eine erzieherische Mission, stellt Höving fest. Bestenfalls sollten die Menschen gar nicht erst mit dem Saufen anfangen. Entsprechend setzten die Bemühungen oft schon in der Schulzeit an: „Ich habe zum Beispiel Literatur gesichtet, die speziell auf Kinder ausgerichtet war.“ Neben moralischen und gesundheitlichen Appellen, gab es auch regelrechte Programme zur Disziplinierung. „Die Organisation Blaues Kreuz nutzte in ihrer Jugendarbeit sogenannte ‚Versprechungen zu Enthaltsamkeit‘, die Jugendliche jeweils für ein halbes Jahr unterschreiben sollten“, nennt Höving ein Beispiel. Dass der alkoholhaltige Messwein vom Verbot ausgenommen war, verweist auf die besondere Rolle des Glaubens. Sogar auf eine Liste abstinenter Heiliger, die den jungen Menschen als Vorbilder dienen sollen, stießen die beiden Forscherinnen. „Religion ist ein wichtiges Referenzsystem für viele Abstinenzbewegungen“, betont Höving.
Keine verlässlichen Daten
Auf der Agenda stand allerdings nicht nur moralisierende Prävention, sondern auch therapeutische Hilfe: „Was wir uns auch angeschaut haben, sind Archivbestände von sogenannten Trinkerheilstätten“, berichtet Höving. Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten dieser Asyle für geplagte Süchtige, das erste europäische 1851 in Ratingen. Wie nötig sie waren, bleibt indes unklar: Verlässliche Statistiken dazu, welche Teile der Gesellschaft wann und wie viel getrunken haben, existieren nicht. Die meisten Quellen sind eher subjektiv verzerrt denn empirisch. „Ich glaube, dass sich häufig der bürgerliche Blick etwas neidisch auf den Arbeiter richtet, weil der sich in seiner Freizeit einfach mal ein Bierchen genehmigt“, vermutet Heying. Auch war das Problembewusstsein in einer Zeit ohne Testgeräte oder Skalen zum Blutalkoholspiegel ein völlig anderes als heute: „Es gab ja noch keine Messwerte. Wenn jemand besoffen randalierte und auffiel, dann galt die Person als betrunken.“ Wer im Stillen soff, ansonsten aber sozial funktionierte, blieb unter dem Radar. „Oft handelt es sich auch um einen allzu deutlich tendenziösen Blick“, gibt Höving zu Bedenken – manch antialkoholische Mahnschrift scheint so übersteigert, als wäre sie selbst in einer Art Rausch verfasst worden.
Publizistisches Massenphänomen
Texte dieser Art gab es zuhauf: „Mitte des 19. Jahrhunderts erscheinen erste medizinische Schriften und Pamphlete“, erklärt Heying. Um die Jahrhundertwende wird der Kampf gegen die Trunksucht dann zum publizistischen Massenphänomen. „Eine Vielzahl von Journalen und Zeitschriften taucht auf, die sich dem Thema widmen“, so Höving. Die Vereinigungen etablieren rasch ihre eigenen Medien und Verlage. „In dieser Zeit fangen die Bewegungen auch an, stärker international zusammenzuarbeiten“, sagt Heying. „In Berlin zum Beispiel gibt es eine Reihe von Verlagen, bei denen auch viele Schweizer Publikationen erscheinen“, fügt Höving hinzu.
Kooperation mit Frauenbewegung
Zudem bildet die Strömung Schnittmengen mit anderen. Höving: „Die Antialkoholbewegung kooperierte in der Schweiz zum Beispiel stark mit der Frauenbewegung.“ Etwa in Form des „Abstinenten Frauenbundes“. Darin zeigt sich ein milieuübergreifendes Engagement. Zumeist suchten bürgerliche Frauen die Arbeiterschaft zu erziehen. „Ein bevormundender Blick der sozial höher gestellten Frau auf den trinkenden Mann“, fasst es Höving zusammen. Paradoxerweise steigerte der männliche Exzess zugleich die Erwartungshaltung an die Frau als treusorgende Gattin, ergänzt Heying: „Der Frau wird laut vieler Pamphlete eine neue Aufgabe zuteil. Sie hat sich demnach nicht nur um Haushalt und Kinder zu sorgen, sondern eben auch darum, dass ihr Mann nicht trinkt.“ Bestimmte Leitfäden legen den Ehefrauen zum Beispiel Rezeptideen für leckere alkoholfreie Getränke ans Herz, die sie ihren durstigen Männern als Alternative kredenzen sollen. Gerade in der Schweiz gelingt aber auch eine aktive Politikgestaltung. Heying: „In Basel waren es zum Beispiel Frauen, die sich dafür eingesetzt haben, dass 1907 die Sperrstunde eingeführt wurde.“
„Drinking Studies“ stärken
Die zwei Forscherinnen engagieren sich im interdisziplinären „Drinking Studies Network“, das seine Basis in Großbritannien hat. Indem sie fortlaufend auch im deutschsprachigen Raum Projekte, Panels und Tagungen gestalten, wollen die beiden das Forschungsthema stärken und Interessierte miteinander ins Gespräch bringen. „Wir arbeiten daran, die ‚Drinking Studies’ auch im deutschsprachigen Raum stärker zu verankern und Forschungsnetzwerke aufzubauen“, stellt Vanessa Höving in Aussicht. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist eine Tagung zu „Trinkpraktiken“ auf dem Hagener Campus, die Mareen Heying vonseiten der FernUniversität mitorganisiert.
Tagung vom 28. bis 30. September 2022
Dr. Mareen Heying organisiert gemeinsam mit Dr. Sina Fabian (Humboldt Universität zu Berlin) Dr. Tobias Winnerling (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf) und Dr. Dennis Schmidt (FernUniversität) eine Tagung zum Thema: „Gefährlicher Genuss? Getränke und Trinkpraktiken seit der Frühen Neuzeit“. Bei der interdisziplinären wie internationalen Veranstaltung geht es nicht allein um alkoholische Getränke, sondern zum Beispiel auch um die wechselhafte Geschichte von Malzbier, Kaffee und Tee. Die hybride Tagung findet vor Ort auf dem Campus in Hagen statt – und wird zugleich gestreamt. Interessierte, insbesondere auch Studierende, sind herzlich willkommen.
Die Tagung wird finanziert durch die Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften (KSW) und die Forschungsgruppe „Figurationen von Unsicherheit“ der FernUniversität in Hagen.