Poetischer Stoffwechsel

Kauen, verdauen, ausscheiden: Vanessa Höving untersucht körperliche Prozesse in Literatur und Kultur. Vom 23. bis 25. Juni auch bei einer Tagung auf dem FernUni-Campus in Leipzig.


Antike Latrine als Bank aus Stein Foto: Colonel1/iStock/Getty Images Plus
Busch oder Latrine? Im alten Rom wurde der Sanitärbetrieb mit Fortschritt assoziiert. Auch heute werden Kulturen noch daran gemessen, wie sie mit ihren Ausscheidungen umgehen.

„Wenn ich von meinem Forschungsthema erzähle, sind einige Leute erst kurz irritiert“, sagt Literaturwissenschaftlerin Dr. Vanessa Höving. Schon im zweiten Satz falle den meisten dann aber ein eigenes literarisches Beispiel ein. „Eigentlich ist das Thema nämlich total anschlussfähig.“ Das, woran Höving derzeit an der FernUniversität in Hagen forscht, betrifft tatsächlich alle: die Darstellung körperlicher Prozesse wie Verdauung und Ausscheidung. Aktueller Arbeitstitel ihres Forschungsprojekts: „Kehrseite der Kultur. Körper, Abfall, Exklusion in der Literatur“. Stoff dafür begegnet ihr in der gesamten Literaturgeschichte. Sie ist voll von Beispielen, die den oftmals tabuisierten Gegenstand aufgreifen – von Goethes Götzzitat über die berühmte Toilettenszene in James Joyce „Ulysses“ bis hin zum „Latrine“-Gedicht, in dem Günter Eich 1946 wagte, „Hölderlin“ auf „Urin“ zu reimen.

Ob Mensch oder Tier…

„Mich interessiert die Art und Weise, wie über Körperabfall geschrieben wird.“ Gemeint sind damit zwar alle Arten von Ausscheidungen, Resten und Ausflüssen des Körpers. „Mein Fokus liegt aber auf Exkrementen“, so Höving. Defäkation hat eine zentrale kulturelle Stellung, denn etwas zu sich nehmen, verstoffwechseln und es wieder loswerden muss jeder Mensch. „Exkretionsprozesse haben zwar auch eine gewisse Gendermarkierung, sind aber größtenteils Gleichmacher – anders als Menstruationsblut oder Sperma“, grenzt die Wissenschaftlerin ab und betont: „Mir ist außerdem wichtig, Tierkörper in die Untersuchung miteinzubeziehen.“ Exemplarisch führt sie „Das Odfeld“ (1888) von Wilhelm Raabe an. „Dieser Text endet damit, dass ein Rabe mit seinem Schnabel ein Buch zerreißt und mit den Papierfetzen im Magen in die Welt rausfliegt – und wir wissen, was mit ihnen passieren wird.“ Ein anderes Beispiel ist E.T.A. Hoffmans „Kater Murr“ (1819 und 1821), der Lesen und Schreiben lernt. „Er darf allerdings nur in die Schreibstube, weil er stubenrein geworden ist und gelernt hat, seine Körperfunktionen zu disziplinieren.“ Es geht beim Thema Körperabfall also auch um das Verhältnis von Mensch, Tier und Umwelt.

Foto: FernUniversität
Postdoc Vanessa Höving analysiert den literarischen Umgang mit Körperabfällen.

Großes Korpus an Texten

Höving berücksichtigt vor allem Darstellungen von 1800 bis heute, über alle Genres und Zielsetzungen hinweg – von Gedichten über Romane bis hin zu ökologischen Ratgebern und medizinischen Abhandlungen. In der deutschsprachigen Publikationslandschaft hat das Thema „Verdauung und Ausscheidung“ spätestens 2014 breite Aufmerksamkeit erregt: Giulia Enders brachte den illustrierten Bestseller „Darm mit Charme“ heraus. „Populärwissenschaftliche Darmliteratur hat dadurch einen Boom erfahren. Ein Phänomen der Gegenwart ist sie allerdings nicht“, weiß Höving. „Bereits im 19. Jahrhundert finden sich zum Beispiel in der Zeitschrift ‚Die Gartenlaube‘ – dem ersten erfolgreichen Massenblatt auf dem deutschen Markt – Artikel darüber, wie Verdauung funktioniert und was man bei Verstopfung machen soll. Großen Erfolg hat im 17. Jahrhundert ein Kompendium von Christian Franz Paullini.“ Seine „Heilsame Dreck-Apotheke“ behauptet, man könne mit Kot und Urin sämtliche Krankheiten heilen. Bis in die Antike reichen die Spuren zurück, Stichwort „Säftelehre“. Die literarischen Texte, die Höving betrachtet, zeigen sich mal mehr, mal weniger offen. „Es gibt literarische Texte, in denen spielt das Thema explizit eine Rolle. Und dann gibt es welche, denen man es auf den ersten Blick nicht ansieht. Beide haben natürlich ihre eigene Relevanz.“

Metabolismus und Literatur

Zum Verstoffwechseln und Verdauen neigt auch die Literatur selbst. „Literatur hat mit Metabolismus und Digestion ganz schön viel zu tun“, meint Höving. Im literarischen Produktionsprozess wird Stoff aufgenommen, verwertet, umgearbeitet und schließlich als Output hervorgebracht, zum Beispiel in Romanform. Bücherwürmern erscheint ein dicker Schinken manchmal als schwer verdauliche Kost, und so weiter. Literatur und ihre Lektüre sind von Sprachbildern der Verdauung geprägt. „Und am Ende ist auch die Toilette ein beliebter Lese- und Schreibort. Man denke zum Beispiel an Schulklos oder Universitäts- und Kneipentoiletten und ihre bekritzelten Wände.“

Tagung zu „Ars metabolica“ in Leipzig

Verschiedene Perspektiven auf das Thema bündelt auch eine internationale Tagung auf dem Campus Leipzig der FernUniversität. Dr. Vanessa Höving organisiert sie gemeinsam mit Prof. Dr. Peter Risthaus, in dessen Lehrgebiet „Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Mediengeschichte“ sie arbeitet. Unter dem Stichwort „Ars metabolica“ geht es vom 23. bis 25. Juni um Stoffwechsel und Digestion als literarisch-kulturelle Prozesse. „Bei meinem Projekt werde ich als Postdoktorandin von der internen Forschungsförderung der FernUni ideell und finanziell unterstützt – das umfasst auch diese Konferenz“, freut sich Höving. Im Vortragsprogramm wird abermals das gewaltige Potential des Themas deutlich. Es reicht von klassischen Autoren wie Theodor Fontane oder Thomas Mann über Kinderbücher bis hin zu Texten im gegenwärtigen Copy-and-Paste-Zeitalter. Interessierte können sich via Zoom zur Tagung in Leipzig zuschalten. „Mit der Ortswahl möchten wir darauf aufmerksam machen, dass die FernUniversität eben nicht nur in Hagen, sondern mit ihren Campus-Standorten deutschlandweit vertreten ist.“


 

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Benedikt Reuse | 20.06.2022