Wenn Führung vergiftet

Wer das Gefühl kennt, von Vorgesetzten absichtlich Aufgaben zu bekommen, die sich nicht bewältigen lassen, kann ein Opfer paratoxischer Führung sein. Die Folgen sind fatal.


Foto: Nadezhda Julmi
Christian Julmi forscht zu paratoxischer Führung.

Ständig kommen Chef oder Chefin mit dringenden Aufgaben kurz vor Feierabend. Überstunden sind im Unternehmen allerdings nicht gerne gesehen. Wer trotzdem ganz pflichtbewusst länger bleibt, muss sich vielleicht am nächsten Tag den Vorwurf anhören, nicht gut genug zu sein, um den Arbeitsauftrag in der vorgesehenen Arbeitszeit erledigen zu können. „Dabei können Mitarbeitende in dieser Situation gar nicht richtig handeln“, weiß Dr. Christian Julmi von der FernUniversität in Hagen. Hier müssen zwei Leistungsanforderungen erfüllt werden, die sich gegenseitig widersprechen: Einerseits kurz vor Feierabend wichtige Aufgaben erledigen, andererseits dafür bitte keinesfalls Überstunden anhäufen. Die Mitarbeiterin oder der Mitarbeiter sitzt in der Falle.

Beschäftigte werden bewusst verunsichert

„Das Heimtückische an diesem Führungsstil ist: Egal für welche der beiden Anforderungen Sie sich entscheiden, Sie können es der Führungskraft nicht rechtmachen.“ Manche setzen die Widersprüchlichkeiten sogar bewusst ein, um Beschäftigte zu verunsichern. Julmi nennt das einen paratoxischen Führungsstil. Paradox sind die Anforderungen und toxisch ist deren zerstörerische Wirkung. Mit dieser giftigen Seite von Führung hat sich Julmi im Rahmen seiner Habilitation auseinandergesetzt. Darin nennt er neben weiteren Beispielen, in denen Beschäftigte verunsichert werden, Merkmale, an denen Betroffene einen paratoxischen Führungsstil erkennen können.

Merkmale paratoxischer Führung

  • Mitarbeitende erhalten häufig Aufgaben, die sich gegenseitig ausschließen. Der Verstoß des einen Befehls wird ebenso ausdrücklich sanktioniert wie der Verstoß des anderen. Die Sanktion kann verbal („Sie sind inkompetent.“) oder nonverbal zum Beispiel in Form von Missachtung erfolgen.

  • Nur wenn Beschäftigte regelmäßig mit widersprüchlichen Anweisungen konfrontiert sind, gilt das als bewusst destruktiv. Isoliertes Fehlverhalten wie ein ungerechtfertigter Wutausbruch sind noch kein Anzeichen für paratoxische Führung.

  • Mitarbeitende trauen sich nicht, die Probleme zu thematisieren. Die Führungskraft könnte beispielsweise so tun, als stünden die Anordnungen nicht im Widerspruch zueinander, und so jede Diskussionsgrundlage aushebeln („Das kommt ihnen nur so vor.“).

  • Betroffenen ist es nicht oder nur sehr schwer möglich, der Situation zu entkommen, weil sie sich in einem finanziellen oder emotionalen Abhängigkeitsverhältnis befinden. Sie befürchten, ihren Job oder den damit verbundenen Status zu verlieren.

  • Nicht immer müssen widersprüchlichen Anforderungen von nur einer Führungspersönlichkeit kommen. Mitarbeitende, können auch zwischen den widersprüchlichen Anweisungen mehrerer Vorgesetzter zerrieben werden.

Für Mitarbeitende kann das Verhalten ihrer Vorgesetzten verheerende Folgen haben. „Wer ständig das Gefühl hat, nichts richtig zu machen, fühlt sich irgendwann überfordert und ausgebrannt, überträgt die Widersprüchlichkeiten äußerer Strukturen auf sich selbst.“ Das sei oft der erste Schritt in eine psychische Abwärtsspirale, aus der es schwer ist, alleine wieder herauszukommen. „Betroffene halten sich irgendwann selbst für inkompetent. Bei jedem erneuten Scheitern suchen sie die Schuld bei sich selbst“, was starke psychologische Folgen haben kann, die weit über ein Burnout hinausgehen.

Ist das ganze Unternehmen durchseucht?

Abhilfe könne ein klärendes Gespräch schaffen. Das Problem: „Kommunikation ist häufig gar nicht möglich, vor allem dann nicht, wenn der Führungsstil das ganze Unternehmen durchseucht hat“, betont der Forscher. Außerdem müssten Mitarbeitende zunächst einmal selbst erkennen, dass sie betroffen sind, um Chef oder Chefin gezielt darauf ansprechen zu können. „Bisher gibt es nicht einmal eine Theorie, mit der sich die zerstörerischen Praktiken in Worte fassen, geschweige denn wissenschaftlich untersuchen lassen.“ Der Wissenschaftler möchte daher dazu beitragen, toxisches Verhalten in Unternehmen sichtbar zu machen. „Nur so können Mitarbeitende erkennen, wenn sie Oper paratoxischer Führung sind, und handeln.“

Foto: FernUniversität
Prof. Dr. Gerrit Brösel, Dekan der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft, hat Christian Julmi (re.) die Lehrbefugnis für das Fachgebiet BWL erteilt.

Julmi betreibt Grundlagenforschung auf einem sehr jungen und sehr kleinen Forschungsgebiet. Er hofft auf weitere Arbeiten, die seine Ergebnisse aufgreifen und überprüfen. „Es wäre spannend, zu erfahren, wie weit verbreitet Muster paratoxischer Führung in deutschen Unternehmen sind. Mein Eindruck ist, dass sie sehr verbreitet sind.“

Betroffenen rät er, sich umgehend mitzuteilen, da paratoxische Führung allerdings darauf abzielt, diese Befähigung zu unterdrücken, nimmt Julmi die Unternehmensleitung in die Pflicht. „Das Management muss die Beschäftigten ermutigen, die Probleme anzusprechen, indem sie ihre Vorgesetzten umgehen können.“ Eine Möglichkeit wäre, eine unabhängige Beschwerdestelle einzurichten, an die sich Mitarbeitende angstfrei wenden können. Und wenn reden nicht hilft, sollten sie ihre Konsequenzen ziehen: „Mein persönlicher Rat an Betroffene paratoxischer Führung lautet ganz klar, das Unternehmen zu verlassen. Eine ganze Führungsebene zu ändern, ist sehr schwer, und gerade wenn das Problem struktureller Natur ist, sollte man sich das, wenn es irgendwie geht, nicht länger als nötig antun.“

Zur Person

PD Dr. Christian Julmi ist seit elf Jahren an der FernUniversität in Hagen. Von 2011 bis 2015 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für BWL, insbes. Organisation und Planung (Prof. Dr. Ewald Scherm), mit abschließender Promotion zu dem Thema „Atmosphären in Organisationen“. Im Jahr 2022 habilitierte er sich und erhielt die Venia Legendi – die universitäre Lehrbefugnis – für das Fachgebiet „Betriebswirtschaftslehre“ durch die Fakultät für Wirtschaftswissenschaft. Titel seiner kumulativen Habilitationsschrift war „Entscheidungen unter Mehrdeutigkeit“. Seit 2022 ist er Privatdozent und akademischer Rat a. Z. am Lehrstuhl.

Der Artikel „Crazy, stupid, disobedience: The dark side of paradoxical leadership“ war Teil der kumulativen Habilitation. Zum Artikel

 

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Sarah Müller | 29.03.2022