Rhetorik statt Richterautomat
Nach fast 25 Jahren als Jura-Professorin an der FernUniversität geht Katharina Gräfin von Schlieffen in den Ruhestand. Die Rhetorik-Expertin schätzte die große Freiheit in Hagen.
Eine Liebe fürs Leben? Das ist die Rechtswissenschaft wohl für Prof. Dr. Katharina Gräfin von Schlieffen. Eine Liebe auf den ersten Blick war sie hingegen nicht. „Ich komme aus einer Juristen-Familie“, erklärt die Forscherin. Sie begann, selbst Jura zu studieren, in Bonn, haderte jedoch anfänglich sehr mit dem dogmatischen Curriculum: „Nach vier Semestern habe ich erst einmal Pause gemacht, weil ich überhaupt nicht mit dem Studium zurechtkam.“ Nach einem einjährigen Ausflug nach Paris und in die Geisteswissenschaft, besann sich die junge Frau. Ihr Plan: In Mainz das Jura-Studium schnellstmöglich zu Ende bringen, danach die Uni hinter sich lassen. „Zu meiner großen Überraschung habe ich die Rechtstheoretiker von der Mainzer Schule getroffen. Sie betrieben Rechtsrhetorik – und zeigten mir damit eine ganz neue Perspektive, wie man Recht betrachtet und versteht.“
Der frische Ansatz, zurückgehend auf den Rechtsphilosophen Theodor Viehweg, begeisterte Katharina Gräfin von Schlieffen sofort. Der Grundstein für ihre wissenschaftliche Karriere war gelegt. 1989 promovierte sie in Mainz, habilitierte sich 1995 in Jena. Nachdem sie 1997 erst einem Ruf nach Münster gefolgt war, wechselte sie noch im selben Jahr an die FernUniversität in Hagen, wo sie bis 2022 den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, juristische Rhetorik und Rechtsphilosophie innehatte.
Recht ist nicht berechenbar
Was ist das Besondere am Ansatz der Rhetorik? „Die Rhetorik geht davon aus, dass das Recht kein exaktes, logisches Regelwerk ist, das zu eindeutigen Entscheidungen führt“, erklärt von Schlieffen. „Vielmehr erwächst das Recht aus dem Streit, den die Kämpfenden unblutig symbolisch wiederholen, seit Homers Zeit durch Rede und Gegenrede, dem Wettkampf unterschiedlicher Meinungen vor Publikum. Und wer es richtig verstehen will, der muss sich diese lange Tradition und gleichzeitig immer die konkrete Situation vergegenwärtigen, den politischen Kontext, den kulturellen Zusammenhang.“ Rhetorik war schon immer die Kunst und das Verfahren, um in den menschlichen Dingen strategische Ziele zu erreichen und zu begreifen. Das gilt auch und gerade für rechtliche Angelegenheiten, denn Rechtsanwendung funktioniert eben eher zwischenmenschlich als arithmetisch. „Recht lässt sich nicht vollständig berechnen!“
„Den Kuchen vergrößern“
Aus diesem dynamischen Rechtsverständnis heraus entwickelte von Schlieffen auch ihre Vorstellung zu einer das Recht ergänzenden Mediation. „Es ist klar, dass man versuchen sollte, einen Streit nicht auf die Spitze zu treiben. Es gibt Möglichkeiten, Konflikte zu vermeiden, die beiden Parteien nur Schaden bringen würden“, so die Wissenschaftlerin. „Im Vorfeld eines Gerichtsverfahrens können sich Parteien oft zusammensetzen und gemeinsam beziehungsweise mit Hilfe eines kompetenten Dritten zu einem konstruktiven Ergebnis kommen.“ Eine gute Mediatorin oder ein guter Mediator versucht, beiden Seiten das Gefühl zu geben, etwas für sich gewonnen zu haben, also eine Nullsummengleichung zu vermeiden. „Wir nennen das: ‚Den Kuchen vergrößern‘“, erklärt von Schlieffen. Denn hinter den gegensätzlichen Positionen der Konfliktparteien stecken oft ganz andere Interessen. Legt man diese offen, können sich neue Lösungen erschließen. So geht es im Rosenkrieg eines getrennten Paares zwar vordergründig um einen Vermögensgegenstand, eigentlich aber um eine emotionale Frage, die man nur außergerichtlich klären könnte – vielleicht sogar derart, dass sich beide Seiten im Nachhinein besser fühlen.
Freiraum FernUniversität
Auf dem FernUni-Campus fand die engagierte Professorin genug Raum zur Entfaltung ihrer progressiven Vorstellungen von Rhetorik und Mediation. „Die FernUniversität war für mich ein idealer Platz, um meine Ideen zu verwirklichen, im Bereich der Forschung wie in der Lehre.“ Der Zeitpunkt war perfekt, um das Profil der Hagener Juristik entscheidend zu formen. „Als ich hier anfing, war die Rechtswissenschaft noch keine Fakultät und in einem eher improvisierten Zustand. Dadurch gab es sehr viel Entfaltungsraum.“ Die Hochschulleitung konnte von Schlieffen dabei schnell auf ihre Seite ziehen. „Als ich die Mediation in Hagen aufbauen wollte, wurde ich sofort vom damaligen Kanzler, Ralf Bartz, unterstützt.“
Beliebtes Lehrangebot
Die Angebote ihres Lehrgebiets entwickelten sich rasch zum beliebten Strang im juristischen Fernstudium. Bis zuletzt experimentierte die Professorin mit innovativen Lehrformaten – zum Beispiel einer speziellen Online-Variante des Rhetorik-Moduls während der Coronakrise, zu dem sich im Sommersemester 2020 über 400 Studierende gleichzeitig angemeldet hatten. Rechtswissenschaftliche Fakultät wie Hochschulleitung setzen sich deshalb dafür ein, das von Katharina von Schlieffen etablierte Lehrangebot auf verschiedene Arten fortzuführen. Ihrer geliebten Forschung wird die emeritierte Professorin auf jeden Fall treu bleiben. „Ich gehe vor Sonnenaufgang in den Garten, setze mich dort gemütlich mit einer großen Kanne Tee an meinen Tisch und schreibe erst mal zwei Stunden in Ruhe“, malt sich sie nach wie vor den perfekten Tagesstart aus.