FernUni-Forschende teilen Expertise zu Oral History

Ein Verbund aus Forschenden und Kunstschaffenden konzentriert sich auf Zeitzeugenstimmen zum geteilten Deutschland. Auch das Hagener Archiv „Deutsches Gedächtnis“ ist beteiligt.


Zehn Personen auf einer Collage Foto: Stefan Krauss
Subjektive Erfahrungen bewahren: 26 Personen teilten in Videointerviews von KRRO Film ihre Erinnerungen.

Diejenigen sprechen lassen, die selbst dabei waren: Das ist der Ansatz der Oral History. In Text, Ton und Bild werden subjektive biographische Erinnerungen festgehalten. Expertinnen und Experten für diese Methode sind die Forschenden am Institut für Geschichte und Biographie (IGB) der FernUniversität in Hagen. Dr. Almut Leh, Geschäftsführerin des Instituts und Leiterin des Archivs „Deutsches Gedächtnis“, und IGB-Gründer PD Dr. Alexander von Plato beteiligten sich an einer interdisziplinären Kooperation, die neue lebensgeschichtliche Quellen für das Archiv des IGB erschließt: Gemeinsam mit der Bildungsforscherin Prof. Dr. Christiane Bertram von der Universität Konstanz, der Stiftung Berliner Mauer und dem Produktionsteam KRRO Film sammeln sie Videointerviews zur Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands – derzeit im Projekt „Generation Mauerbau“.

Bereits abgeschlossen ist das Projekt „Generation 1975 – Mit 14 ins neue Deutschland“, in dem Zeitzeuginnen und Zeitzeugen befragt wurden, die zum Zeitpunkt des Mauerfalls gerade 14 Jahre alt waren. „Sie haben bewusste Erfahrungen was das Leben im geteilten Deutschland angeht“, erläutert Almut Leh. Gleichzeitig fiel für die Befragten die historische Umbruchsphase mit einer persönlichen zusammen, was ihre Sichtweisen besonders interessant macht.

Erlebnisgeschichtlicher Zugang

Insgesamt teilten 26 Personen ihre Jugenderinnerungen – davon die eine Hälfte aus West- die andere aus Ostdeutschland. Die Befragungen nahmen Ina Rommee und Stefan Krauss von KRRO Film vor. Dabei folgten sie dem Ansatz der Oral History und ließen die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen weitestgehend frei sprechen. „Die Interviews sind durchaus ähnlich zu denen, die wir machen“, erklärt Almut Leh mit Blick auf die eigenen Projekte des IGB. „Das heißt, dass es nicht nur um einen bestimmten Aspekt oder eine bestimmte Phase im Leben ging, sondern ein möglichst umfassendes lebensgeschichtliches Interview geführt wurde.“ Als Kreativduo brachte KRRO allerdings auch eine starke ästhetische Komponente in die Interviewdokumentation ein.

Finger mit Peace-Zeichen durch Mauerloch Foto: FrankvandenBergh-/E+/GettyImages
Jugendliche Perspektive: Für die Generation 1975 fiel der historische Umbruch mit der eigenen Pubertät zusammen.

Methodische Beratung aus Hagen

Um dem Material über die künstlerische Dimension hinaus möglichst viel zeithistorischen Wert einzuschreiben, teilten Almut Leh und Alexander von Plato frühzeitig ihre Expertise mit dem Produktionsteam. „Wir haben bei der Auswahl der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen beraten“, resümiert Leh. „Auch bei der Frage, wie so ein Interview am besten geführt werden soll. Zum Beispiel bin ich bei einem der Pilotinterviews dabei gewesen, um mir die Umsetzung anzuschauen und Feedback zu geben.“ Aus den Videos erstelle KRRO schließlich künstlerische Videoinstallationen. Sie wurden anlässlich der 30. Jährung der Wiedervereinigung im „Haus der Geschichte Baden-Württemberg“ in Stuttgart und in der „Erinnerungsstätte Marienfelde“ in Berlin gezeigt. Zudem floss das Material in verschiedene akademische Projekte ein.

Bereicherung fürs Archiv

Die FernUniversität profitiert langfristig von den etwa dreistündigen Videos und ihren sorgfältigen Transkripten: Das Archiv „Deutsches Gedächtnis“ hat das Material in seine Sammlung integriert. „Das ist ein interessanter Bestand“, freut sich Leh. „Wendeerfahrungen spielen bei uns thematisch immer eine Rolle, weil der Zusammenbruch der DDR zu vielen biographischen Umbrüchen geführt hat – und nach Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg das wichtigste Forschungsthema für die deutsche Oral History geworden ist.“ Die neuen Quellen stehen hier fortan Forschenden wie Studierenden zur Verfügung. „Die Aufarbeitung kann auch Gegenstand von Praktika bei uns sein“, schlägt die Archivleiterin vor.

Nachfolgeprojekt in selber Konstellation

In selber Zusammensetzung wie bei „Generation 1975“ startete nun das Folgeprojekt: „Generation Mauerbau“. Hier werden die Stimmen von Menschen des Jahrgangs 1961 eingefangen. „Auch diese Generation kennt die Mauer seit ihrer Geburt“, so Leh. „Ihre Erfahrung ist aus einer historischen Perspektive ebenfalls sehr spannend.“ Aktuell ist der Forschungsverbund noch auf der Suche nach geeigneten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Angesichts der Corona-Pandemie soll diesmal besonderes Gewicht auf der Frage liegen, wie Menschen vor dem Hintergrund ihrer biographischen Erfahrungen aus Ost- und Westdeutschland mit Krisen umgehen.

 

Archiv „Deutsches Gedächtnis“

Das Archiv beheimatet vor allem Zeitzeugeninterviews. Die aktuell rund 3.000 Audio- und Videoaufzeichnungen thematisieren schwerpunktmäßig biographische Zäsuren – etwa mit Blick auf Flucht, Lagerhaft, Krieg oder nationalsozialistische und stalinistische Verfolgung. Die Interviews folgen dabei einer speziellen Methode: Sie werden thematisch nicht eingeengt, sondern für die gesamten Lebensgeschichten offengehalten. Auf diese Weise bietet das entstandene Material zahlreiche Anknüpfungspunkte für die weitere wissenschaftliche Auswertung. Zur Sammlung gehören zudem schriftliche Erinnerungszeugnisse – zum Beispiel Autobiographien, Tagebücher oder Briefe. In Kooperation mit dem Center für Digitale Systeme (CeDiS) der Freien Universität Berlin betreibt das IGB außerdem ein Online-Archiv, das in einem aktuellen DFG-Projekt ausgebaut wird.

 
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Benedikt Reuse | E-Mail: benedikt.reuse
Online-Redakteur | Stabsstelle Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit

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Benedikt Reuse | 24.11.2021