Kopf-Kacheln ohne Charisma auf dem Monitor
Prof. Jürgen Weibler von der FernUniversität sieht durch den Home-Office-Trend trotz seiner Vorteile einen Verlust von Spontanität und Energie-Blockierung bei vielen Beschäftigten.
„Es ist nicht schön, auf Dauer alleine zu sein. Dadurch entstehen Entfremdungsgefühle. Wer noch im Büro ist, fürchtet um die Bindungen zu Kolleginnen und Kollegen und an die Organisation.“ Prof. Dr. Jürgen Weibler von der FernUniversität in Hagen sieht durch den von der Pandemie angeheizten Home-Office-Trend einen realen „Verlust der spontanen Lebendigkeit vieler Beschäftigter und das Blockieren von Energie, weil in leerstehenden Büros Teams zerrissen und Kontakte vermindert werden”.
Vielen Beschäftigten fehlen ihre Kolleginnen, Kollegen und Vorgesetzten. Und auch der Smalltalk mit ihnen. „Das hat zu sozio-emotionaler Verarmung geführt – auch bei Arbeitsbeziehungen“, erläutert der Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Personalführung und Organisation. „Darunter leiden viele.“
Unbestreitbar für den Wirtschaftswissenschaftler und Psychologen ist, dass es ein hundertprozentiges „Ja“ zum Home-Office-Arbeiten ebenso wenig gibt wie ein „Nein“: „Es kommt auf die richtige und individuelle Mischung zwischen Arbeiten zuhause und im betrieblichen Büro an.“
Andere nicht mehr riechen können
Auch wenn die heimischen Arbeitsbedingungen oft nicht optimal sind, schätzt doch ein großer Teil der Beschäftigten die Vorteile der Arbeit zuhause. Sie spart Zeit und schont unter gewissen Bedingungen die Umwelt. Zudem kann man oft Berufs- und Privatleben besser miteinander verknüpfen. Dafür nehmen sie einige Defizite in Kauf. Diese liegen – neben dem Ausfransen der Grenze zwischen Berufs- und Privatleben, dem „Work-Life-Blending“ – unter anderem in der zumeist schlechteren technischen Infrastruktur, in langwierigeren Abstimmungen und teilweise holprigen betrieblichen Abläufen. Schwierigkeiten bereiten zudem Fragen der Cybersicherheit.
Wirklich möglich wird „entferntes Arbeiten“ erst durch Videokonferenzen. Sie sind schnell organisierbar, aber kein vollwertiger Ersatz für persönliche Begegnungen. „Bilder und Videos auf Monitoren haben keine einnehmende Anmutung, schon gar kein mit Personen zu verbindendes Charisma“, so Weibler, „denn im digitalen Raum hat unser Gegenüber zwar ein Gesicht, aber keine vertraute Gestalt.“ Dass nicht alle Sinne gleichsam wie in einer Body-to-Body-Begegnung aktiviert werden, ist bei der Informationsaufnahme durch die Nase am offensichtlichsten, aber weitgehend unbekannt: Der oft überhaupt nicht bemerkte, aber dennoch wahrgenommene Geruch anderer fehlt. Er kann bereits evolutionär wichtige Signale wie zum Beispiel Dominanz oder Angst vermitteln.
Lebenssinn durch „Resonanz“
In virtuellen Treffen fehlt es den Teilnehmenden kontinuierlich an „Resonanzerfahrungen“. Der FernUni-Wissenschaftler bezieht als einer der ersten seines Fachs diesen aus der Soziologie stammenden Begriff auf die Führungsbeziehung (Jürgen Weibler: Digitale Führung. Beziehungsgestaltung zwischen Sinnesarmut und Resonanz. München, 2021). Gemeint ist mit diesem Beziehungsmodus hier unter anderem, dass sich Geführte wie Führende in dieser Beziehung angesprochen fühlen, dass werthaltige Emotionen und Einschätzungen ausgesprochen und „beantwortet“ werden können. Hierdurch entsteht eine beidseitig wahrgenommene Verbindung, die der Beziehung Lebendigkeit verleiht, was wiederum von jedem gespürt wird. Bleibt diese Erfahrung hingegen aus, wird eine Beziehung schnell als technisch und kalt empfunden, man entfremdet sich nun leicht voneinander.
Die Resonanztheorie lässt sich auf alle menschlichen Beziehungsformen anwenden, das Streben nach Resonanzerfahrungen gibt es also ebenfalls für laterale Beziehungen. Nur „resonanzhaftige“ Beziehungen können „unserem Leben tieferen Sinn und Richtung“ geben, zitiert Weibler den Soziologen Hartmut Rosa (2016).
Entfremdende Videokonferenzen
Selbst bei guter technischer Vernetzung, wofür gerade Videokonferenzen stehen, droht Entfremdung statt einer Resonanzerfahrung: „Räumliche Distanz schafft soziale Distanz und kann zu einem Verlust an Bindung führen.“ Das gilt noch viel mehr bei der Kommunikation per E-Mail, in der soziale Informationen, die sonst beiläufig im Gespräch signalisiert werden, nur mehr schlecht als recht mit Emojis etc. vermittelt werden können. In Telefonaten sind wenigstens noch „stimmliche Signale“ zu erkennen.
Digitale Führung
Jürgen Weibler: Digitale Führung. Beziehungsgestaltung zwischen Sinnesarmut und Resonanz. In der Reihe „Die Zukunft der Arbeit“ des Roman-Herzog-Instituts e.V., München (2021, ISBN 978-3-941036-65-9), kostenfrei zu bestellen unter www.romanherzoginstitut.de.
Personen, die sich real sehen, können Reaktionen in der Mimik, Gestik oder Körperhaltung der anderen schnell erkennen und sofort reagieren. Bei einem Online-Meeting ist das umso schwieriger, je mehr Teilnehmende es sind. Online-Konferenzen vermitteln, so Jürgen Weibler, eben nur „das Bild einer Situation“. Die Teilnehmenden haben eine ganz andere „Anmutung“ von einer virtuellen Zusammenkunft als von einer physischen. Sie sind eher Beobachterinnen und Betrachter, die nicht wissen, wie sie – und das von ihnen Gesagte – auf andere wirkt, weil sie deren Reaktion kaum oder gar nicht erkennen können. Je größer die Zahl der Teilnehmenden und je kleiner damit die Bildchen auf dem eigenen Monitor sind, desto größer werden die Probleme.
Unnatürliche Kommunikation
Dazu gehört auch, dass man ja gar nicht in einer Runde zusammensitzt, sondern sich einer Phalanx von oft ruckelnden, verschwommenen Portraits auf pixeligen Mini-Kacheln gegenübersieht. Weibler: „Diese Kommunikationssituation ist denkbar unnatürlich. Von ‚Aura‘ einer Person kann da keine Rede mehr sein. Es hat schon seinen Sinn, dass wir den evolutionären Wunsch nach ‚Tuchfühlung‘ haben. Wir wollen einander unmittelbar in unserer Gesamtheit wahrnehmen.“
Selbst bei gesprochenen Worten fehlt oftmals vieles: sprachliche Nuancen wie Pausen und Betonungen, die Worte mit Mimik, Gestik, Körperhaltung und vielem mehr verbinden. Weibler: „Bei virtueller Kommunikation kann unser Hörzentrum beispielsweise störende oder unwichtige Geräusche nicht so gut ausblenden wie in natürlicher Umgebung. Zusammen mit der notwendigen hohen Konzentration beim Verfolgen des Gesprächsverlaufs macht das richtig Stress.“
Die Unnatürlichkeit der Situation wird aber oft erst dann bemerkt, wenn das Gesehene und das Gehörte nicht gut zusammenpassen, „wenn wir uns unbehaglich fühlen, aber nicht sagen können, warum“, erläutert Weibler. „Das bezeichnen wird dann als ‚Bauchgefühl‘. Passen Form und Inhalt, fühlen wir uns gut, ansonsten bleiben wir kritisch.“
Zusätzlich tragen noch überlastete Internetleitungen zu irritierenden oder gar chaotischen Gesprächsverläufen bei – wegen unterschiedlicher Verzögerungen bei der Übertragung. Und kommen konstruktive Rückmeldungen zu spät an, ist die Diskussion schon ein Stück weiter. Frustrierend.
„Die Zukunft wird hybrid sein“
„Bis auf weiteres bleibt also noch die persönliche Begegnung das Ideal“, so Weibler. „Je wichtiger die Informationen sind, um die es geht, desto anspruchsvoller sollte die eingesetzte Technologie sein“, betont er, „denn umso relativ besser können die Situation, die Stimmung oder auch nur das Minenspiel des oder der anderen erkannt und interpretiert werden.“ Dort wo dies weniger wichtig ist, gibt es auch offensichtliche Vorteile durch die Kommunikation im Netz: bei einer kurzen fachlichen Absprache, einem schnellen Informationsaustausch zwischen den Teammitgliedern oder einer Nachfrage von der Teamleitung zum Beispiel. „Aber wir wissen auch, dass es schwieriger wird, initiative Vorschläge zu erhalten, kreativ zu arbeiten oder für den anderen da zu sein.“
Dennoch ist Weibler aufgrund der ebenfalls unbestreitbaren Vorteile der Arbeit im Home-Office sicher: „Die Zukunft wird hybrid sein, soweit die Aufgaben dies ermöglichen!“ Mindestens die Hälfte der Jobs könnte völlig oder teilweise im Home-Office erledigt werden, stützt sich er sich unter anderem auf Aussagen des ifo-Instituts. Online-Kommunikation und digitale Führung werden also dauerhaft zum Arbeitsleben gehören.
Wichtig ist, allen Beschäftigten, die nicht im Büro arbeiten, Zugang zu optimalen Technologien und bestmöglichen Internetzugängen zu ermöglichen. Technologien müssen so weiterentwickelt werden, dass die Kommunikation immer natürlicher wird. Diese könnte in absehbarer Zeit zum Beispiel von fast natürlich wirkenden Konferenz- oder Meetingräumen mit intuitiven Bewegungsmöglichkeiten bis hin zum Einsatz handlungsbegleitender oder -anregender Künstlicher Intelligenz (KI) führen, die in Echtzeit die Teamleitung auf das Wegdriften des Teams bei ermüdenden Monologen hinweist. Heute könnte sie sich schon die individuellen Redezeiten während einer Besprechung anzeigen lassen.
Wird es in sehr natürlich wirkenden virtuellen Gesprächsrunden in Zukunft vielleicht sogar die Möglichkeit geben, sich unterbewusst tatsächlich riechen zu können? Weibler: „Wer weiß, was wir alles erfahren und wissen werden. Wir stehen ja erst am Anfang einer rasanten Entwicklung, die wir nur ungenügend aus dem Hier und Jetzt beurteilen können.“
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Viele Ratschläge, die Weibler Führungskräften auf der Basis seiner theoretischen Forschungsarbeit zur Digitalen Führung gibt, können auch Beschäftigten fachliche und eher persönliche Gespräche untereinander erleichtern:
- Mindestens zu Beginn einer Videokonferenz sollten alle einmal sichtbar sein. Gelegenheiten zu einem kurzen fachlichen Smalltalk sollten immer wieder einmal gegeben sein.
- Je wichtiger und diffiziler ein virtuelles Gespräch ist, desto weniger Personen sollten teilnehmen.
- Sich zurückzunehmen und dialogbereit zu sein, motiviert die anderen Teilnehmenden und ermöglicht ihnen, Selbstwirksamkeit durch Teilhabe am Geschehen zu erfahren.
- Das gelegentliche Ansprechen mit Namen fördert die Einbindung.
- Virtuelle Beziehungen sollten nicht auf die Spitze getrieben, sondern mit analogen Lösungen kombiniert werden, sofern dies sinnvoll ist und sich einrichten lässt.
- Beschäftigte sollten sich besonders dann, wenn sie im Home-Office sind, Zeit für ihre Kolleginnen und Kollegen nehmen, etwa für informelle, private Dies-und Das-Gespräche, wie sie bei zufälligen Begegnungen entstehen (Büroflure, Teeküchen etc.).
- Beziehungen gelingen, wenn sie lebendig sind, was sich idealerweise in sinnbasierten Resonanzerfahrungen ausdrückt. Dann fühlt man, dass man geschätzter Spieler in einem wichtigen Match ist, dessen Ausgang man mit beeinflussen kann und nicht nur einfach der Spielball all der anderen. Dann steht man auch morgen gerne wieder auf dem Platz.