New Learning in a Material World

Eine Fachtagung an der FernUniversität betrachtete die materielle Seite des Digitalen. Die Veranstalter erklären, warum ein kritischer Blick hinter die Bildschirme wichtig ist.


Papa sitzt am Laptop und betreut zugleich zwei Kinder Foto: Westend61/Slovakia/Getty Images
Digitales Lernen bedeutet nicht für alle das Gleiche: Wie leicht oder schwer Lernenden die Arbeit im virtuellen Raum fällt, hängt von vielen Hintergrundfaktoren ab.

Digitalisierung findet nicht im luftleeren Raum statt. Im Gegenteil: Jeder Klick, jede Suchanfrage, jeder Swipe mit dem Finger beeinflusst auch die materielle Wirklichkeit – von der globalen CO₂-Bilanz über sozio-ökonomische Verhältnisse bis hin zur neuronalen Hirnstruktur jedes einzelnen Menschen. Welche Wechselwirkungen es mit dem Bildungsbereich gibt, darauf blickte jetzt ein zweitägige Fachtagung mit dem Titel „Materialität – Digitalisierung – Bildung“ an der FernUniversität in Hagen. Organisiert haben sie Dr. Christian Leineweber vom Lehrgebiet Bildungstheorie und Medienpädagogik sowie Dr. Maik Wunder und Dr. Maximilian Waldmann vom Lehrgebiet Bildung und Differenz. Die Online-Veranstaltung fand unter dem Dach des interdisziplinären Forschungsschwerpunkts digitale_kultur der FernUniversität statt.

In den Vorträgen und Diskussionen zeigte sich schnell: Die neuen technischen Möglichkeiten sind ambivalent; ob sie pädagogisch zuträglich sind, hängt stark vom Kontext ab. „Die digitale Sphäre potenziert erst einmal unsere Erfahrungsräume“, resümiert Christian Leineweber. „Zum Beispiel in einem Augmented-Reality-Szenario, bei dem eine Brille Informationen über das blendet, was ich sehe.“ Solche immateriellen Einflüsse sind in vielen Fällen bereichernd. Derzeit macht die Corona-Krise den Wert virtueller Angebote besonders deutlich – auch in Hagen: „Als FernUniversität sind wir momentan relativ privilegiert, weil wir das Studium größtenteils über Online-Veranstaltungen anbieten können. Die zugrundeliegende Infrastruktur ist über Jahre gewachsen und hat sich als anwendungsfähig und belastbar erwiesen“, sagt Maximilian Waldmann.

Hintergründe oft unbekannt

Gleichzeitig sieht er im virtuellen Austausch aber auch ein Problem: „Als Lehrende kennen wir die Hintergründe der Studierenden oft gar nicht. Wir sehen ihre Beiträge, aber nicht, unter welchen Bedingungen sie geschrieben wurden.“ Nicht alle lernen unter gleichen Vorzeichen, erinnert Waldmann: „Herrschte etwa Zeitnot oder mussten pflegebedürftige Angehörige betreut werden?“ Die individuellen Biografien der Lernenden gilt es künftig stärker zu berücksichtigen. Auch für die Wissenschaft ist das eine große Herausforderung. Gerade persönliche Hürden sind oft schwer zu identifizieren: „Digitale Bildung ist ja nicht nur dann unzugänglich, wenn bestimmte Endgeräte fehlen, sondern zum Beispiel auch, wenn das Wissen darüber, wie man sich in virtuellen Lernumgebungen bewegt, nicht ausreicht“, so Waldmann. Der verstärkte Einsatz digitaler Medien könnte eine gefährliche Kluft zwischen den Lernenden aufreißen.

Mädchen hält Tablet in Klassenzimmer, schaut konzentriert Foto: Klaus Vedfelt/DigitalVision/Getty Images
Digitalität ist kein automatischer Heilsbringer – es kommt mehr denn je auf die richtige pädagogische Nutzung an.

Digitale Bildung als Feigenblatt?

Ein neues Phänomen ist die soziale Ungleichheit gleichwohl nicht, betont Maik Wunder: „Im digitalen Raum wird sie nur weiter tradiert.“ Diskriminierung manifestiert sich dabei nicht selten unter dem Deckmantel vermeintlicher Freiwilligkeit. Kann sich eine Familie etwa keinen guten Internetanschluss oder teure Endgeräte leisten, sind die Kinder schnell abgehängt – selbst, wenn es eigentlich kein offizielles Gebot zum digitalen Lernen gibt. „Wahrscheinlich läuft es darauf hinaus, dass sich Grundhaltungen gegenüber Bildung fundamental ändern müssen“, ergänzt Leineweber. „Das liegt an den Ungleichheitsfragen, aber auch an den neuen Akteuren, die in Bildungsprozesse eingreifen.“ Viele Unternehmen hätten eben ein klares kapitalistisches Interesse daran, im Bildungsbereich mitzumischen. „Das fängt schon im Kindergarten und in der Schule an.“ Welcher Hersteller ein Klassenzimmer mit seiner elektronischen Produktpalette ausstattet, bleibt letztlich eine ökonomische Frage. „Hier kommt die pädagogische Reflexion oft zu kurz“, mahnt Leineweber.

Technik planvoll einsetzen

Auch deshalb sollten sich die Verantwortlichen genau überlegen, welche Technik warum zum Einsatz kommt. Digitalität erfüllt keinen Selbstzweck, sondern muss die Lernenden tatsächlich weiterbringen – auch in sozialer Hinsicht, bekräftigt Wunder: „Es ist eben ein Unterschied, ob die Kinder in einem Klassenraum einzeln hinter ihren Tablets verschwinden oder sich gemeinsam um ein Whiteboard gruppieren.“ Daher sollten althergebrachte Bildungsmedien nicht pauschal abgelehnt werden. „Ein Tablet, das in der Schule eingesetzt wird, ist möglicherweise schlechter sinnlich zu erfassen als ein gedrucktes Buch.“ Die Wahl des Werkzeugs gebe immer einen spezifischen Nutzungspfad vor. Ob Kinder mit einem Stift oder einer Software schreiben, mache einen didaktischen Unterschied, den es von Fall zu Fall zu bedenken gelte. „Bei Nietzsche heißt es so schön: ‚Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken.‘“, fasst Wunder zusammen.

 
 

Das könnte Sie noch interessieren

Benedikt Reuse | 11.03.2021