Wie können Maschinen und KI vergessen lernen?
FernUni-Professor Christoph Beierle forscht im Projekt „Intentionales Vergessen und Änderungen in Arbeitsprozessen“, wie Maschinen das Vergessen lernen können.
Die digitale Transformation mit unendlichen Datenmengen verlangen von Mensch und Maschine eine wachsende Anpassungsfähigkeit und Flexibilität. Unser Gehirn verfügt bereits über einen dafür essentiellen Mechanismus – das Vergessen. Wir können Informationen, die nicht mehr relevant sind, vergessen und neue Prozesse verinnerlichen. Auch Kreativität ist nur möglich, wenn wir alte Pfade verlassen. Doch unsere Maschinen oder Künstliche Intelligenzen können das noch nicht. Die Hauptfrage des Projekts ist: Kann man von unserem Vergessen profitieren und dies auf Organisationen übertragen?
Interdisziplinäres Forschungsprogramm
Daran forschen acht Forschungsteams. Zu einem Forschungsteam gehört Prof. Dr. Christoph Beierle (Lehrgebiet Wissensbasierte Systeme) der FernUniversität in Hagen. Das Forschungsvorhaben „Intentionales Vergessen in Organisationen“ fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft als Schwerpunktprogramm. Das interdisziplinäre Projekt besteht aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus den Bereichen Informatik, Psychologie und Wirtschaftswissenschaft.
Warum ist Vergessen keine Bedrohung, sondern wichtig?
„Situationen, in denen wir etwas vergessen haben, zum Beispiel ein Passwort, passieren uns täglich und wir ärgern uns.“, sagt Beierle. „Der Begriff Vergessen ist in aller Regel negativ besetzt.“ Denn in unserer Welt verhilft Wissen zu Ansehen und Status und wir wollen unser kostbares Wissen behalten. Das Nicht-Vergessen verursacht aber verstärkt durch die Digitalisierung immer größere Probleme in Organisationen und auch bei den Beschäftigten, da die Informationsflut zu immer größerem Bearbeitungsaufwand und zu erhöhten Belastungen führt.
Sinnvoll mit Informationen umgehen
„Wenn wir in Zukunft noch sinnvoll mit der Informationsflut umgehen möchten, müssen Maschinen vergessen können“, erklärt Beierle. Beim Vergessen von Wissen unterscheidet man zwischen deklarativem Wissen und prozeduralem Wissen. Deklaratives Wissen ist wesentlich einfacher zu vergessen. Ein Beispiel dafür ist, dass Bonn nicht mehr die Hauptstadt von Deutschland ist. Daran haben wir uns schnell gewöhnt und wissen, dass es nun Berlin ist. Das prozedurale Wissen sitzt tiefer und beschreibt beispielsweise verinnerlichte Arbeitsabläufe und Gewohnheiten. Wie viel schwieriger es ist, prozedurales Wissen zu vergessen und zu ändern, wird deutlich, wenn man bedenkt, wie schwer es uns oft fällt, eingespielte Routinen zu ändern oder durch neue zu ersetzen.
Informationen unterschreiten eine „Schwelle“
„Wir modellieren verschiedene Ansätze des Vergessens, um zu schauen, wie Maschinen das Vergessen erlernen könnten. Durch eine Modellierung versuchen wir, den menschlichen Mechanismus nachzubilden“, erklärt Beierle. Dabei arbeiten die Forscherinnen und Forscher mit Methoden der Informatik und mit psychologischen Modellen, wobei insbesondere die folgenden Aspekte das Vergessen von Wissenselementen beeinflussen: Häufigkeit und letzter Zeitpunkt der Verwendung, Vernetzung mit anderen Informationen und die Verbundenheit mit Ereignissen. Wenn eine Information häufig abgerufen wird, könnte dies der Maschine bestätigen, dass die Information wichtig ist, ebenso, wenn sie stark mit anderen Infos vernetzt ist oder an ein wichtiges Ereignis geknüpft ist.
Informationen, die diese Punkte nicht mehr erfüllen, können möglicherweise dann unter eine „Schwelle“ rutschen und es bedarf mehr Aufwand diese Information in das Bewusstsein zu rücken. „Das funktioniert ähnlich wie bei uns – eine Erinnerung kann durch ein Ereignis oder durch einen Geruch wiederkommen, ist aber nicht dauerhaft präsent.“
Vertrauen wir Maschinen, die vergessen?
Das Forschungsprojekt betrachtet den Menschen und die Maschine im Zusammenspiel. Im Projekt gibt es mehrere Beispiele, an denen die „Informationsschwelle“ erprobt wird. Eines davon ist der Helpdesk des IT & Medien Centrums (ITMC) der TU Dortmund. Häufig wird dort zu Semesterbeginn nach dem Semesterticket gefragt. Diese Information ist zeitlich gebunden und begegnet den Beschäftigten des Helpdesks häufig zu diesem Zeitpunkt. Hier wäre es möglich, dass die Information dann im laufenden Semester unter die „Schwelle“ tritt und den Beschäftigten nur zum erwähnten Zeitpunkt angezeigt wird.
Ein anderes Beispiel ist eine Produktionsstraße, die zum Beispiel ein neues Produkt herstellt, wodurch sich auch die Arbeitsabläufe für die Beschäftigten ändern. Hier wird geforscht, wie durch Modellierung von Vergessensprozessen die Beschäftigten dabei unterstützt werden können, die alten Arbeitsabläufe effizient zu vergessen, um beispielsweise Arbeitsunfälle zu vermeiden, die durch den Rückfall in alte Prozesse ausgelöst werden könnten.
Gewinner „Distinguished Paper Award“
Für ihre Forschung zu Intentionalem Vergessen erhielten Kai Sauerwald, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrgebiet von Prof. Beierle, Prof. Dr. Gabriele Kern-Isberner (TU Dortmund) und Prof. Dr. Christoph Beierle im September 2020 gemeinsam den „Distinguished Paper Award“ der ECAI 2020, der bedeutendsten KI-Konferenz in Europa, mit dem die besten sechs Arbeiten aus mehr als 1.700 Einreichungen ausgezeichnet wurden. In ihrem Paper betrachten sie Schritte und Stufen des Vergessens und Folgen von Wissensänderungen. Sie werden in den nächsten drei Jahren weiter forschen und ihren Schwerpunkt auf das prozedurale Wissen legen.