EU spielte in der Krise bisher kaum eine Rolle

Gemeinsam mit einem europäischen Team hat FernUni-Politikwissenschaftlerin Dr. Renate Reiter das Corona-Management einiger europäischer Staaten sowie der EU untersucht.


Porträt von Renate Reiter Foto: FernUniversität
Renate Reiter arbeitet im FernUni-Lehrgebiet Politikfeldanalyse und Umweltpolitik.

Gerade erst verkündete die EU-Kommission, dass sie zukünftig eine zentralere Rolle bei der Bewältigung von Gesundheitskrisen spielen möchte. Bei der ersten Corona-Welle im Frühjahr 2020 war die Ausgangslage noch eine andere. Gemeinsam mit einem europäischen Team hat sich FernUni-Politikwissenschaftlerin Dr. Renate Reiter das Corona-Management einiger europäischer Staaten sowie der EU im Frühjahr aus verwaltungs- und politikwissenschaftlicher Perspektive angeschaut.

Der entsprechende Aufsatz ist in der Public Administration Review (PAR), einer renommierten Zeitschrift im Bereich der Verwaltungswissenschaft erschienen. Die Politikwissenschaftlerin an der FernUniversität in Hagen und ihre Kolleginnen und Kollegen von der Universität Leuven (Belgien), der Università Cattolica del Sacro Cuore (Italien), und der Universität Potsdam haben in ihm das Handeln in den Ländern Deutschland, Belgien, Italien und Frankreich sowie auch die Aktionen der Europäischen Union (EU) zu Beginn der Corona-Krise miteinander verglichen. Aufgrund ihrer Expertise im deutsch-französischen Public Policy- und Verwaltungsvergleich lag Renate Reiters Fokus auf Frankreich. Als Quellen hat das Team regierungsamtliche und öffentliche Websites sowie die nationale Tagespresse in den jeweiligen Ländern herangezogen. Es hat sich unter anderem angeschaut, über welche Mechanismen die Länder auf die Krisensituation aufmerksam wurden, wie sie sich koordiniert oder auch wie sie die Krise kommuniziert haben.

Blick auf Deutschland, Belgien, Italien und Frankreich

Deutschland, Belgien, Frankreich und Italien haben unterschiedliche administrative Systeme. Frankreich hat ein traditionell stark zentralistisches Regierungs- und Verwaltungssystem, Italien zeichnet sich durch einen deutlicher dezentralisierten, regionalisierten Einheitsstaat aus, in Belgien und Deutschland gibt es ein föderales System. Auf den ersten Blick haben die Staaten dennoch alle sehr ähnlich auf die Bedrohung reagiert: mit Lockdowns, Shutdowns, Kontaktbeschränkungen und Veranstaltungsverboten. „Bei genauerem Hinsehen gibt es aber Unterschiede. Entsprechend ihrer jeweiligen Systeme haben einige Länder zentral und einige dezentral reagiert“, erläutert die FernUni-Wissenschaftlerin. „Insgesamt haben die Staaten in der Krise an ihren bewährten Strukturen festgehalten.“ Zum einen lag dies daran, dass es in einer Situation der Unsicherheit einfacher ist, Bewährtes zu tun. „Zum anderen ist die Folgebereitschaft der Bürgerinnen und Bürger ein entscheidender Erfolgsfaktor und diese ist höher, wenn sich die Entscheidungen an den jeweiligen Traditionen in den Ländern orientieren.“

„Entscheidungen waren sehr stark von nationalen Interessen getragen und auf den nationalen Raum fokussiert.“

Dr. Renate Reiter

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sahen bei den Wegen, die die einzelnen Länder zur Pandemiebekämpfung eingeschlagen haben, sowohl Vor- als auch Nachteile. In Deutschland kam es beispielsweise aufgrund der föderalen Struktur zu Schwierigkeiten zwischen dem Bund und den Ländern. In Frankreich hingegen wurde öffentlich kritisiert, dass selbst kleine Entscheidungen in den jeweiligen Departements mit der zentralstaatlichen Ebene und Paris abgestimmt werden mussten.

Die Rolle der EU

Auch wenn sich die Reaktionen im Detail unterschieden, kommt in der Arbeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler klar heraus, dass sich ein Verhalten zu Beginn der Krise in allen Ländern glich: „Entscheidungen waren sehr stark von nationalen Interessen getragen und auf den nationalen Raum fokussiert.“ Die Gruppe der Forscherinnen und Forscher nennt dies „Coronationalimus“. Ein Bespiel hierfür waren die Grenzschließungen. „Sie waren allerdings nur das i-Tüpfelchen. Es war mehr Symbolpolitik“, erklärt die Wissenschaftlerin aus dem FernUni-Lehrgebiet Politikfeldanalyse und Umweltpolitik. Viel entscheidender ist, dass die Europäische Union in der Corona-Bekämpfung keine Rolle spielte. „Das lag sowohl daran, dass die EU nicht eingreifen konnte, weil sie im Bereich der Gesundheit kaum über Kompetenzen verfügt, aber auch daran, dass die einzelnen Staaten ein Eingreifen der EU nicht wollten. Sie haben sich auf sich selbst zurückgezogen. Als übergreifender Akteur war die EU praktisch nicht mehr vorhanden.“

Foto: Anton Petrus/Moment/Getty Images
Nach Willen der EU-Kommission soll die EU bei der Pandemiebekämpfung zukünftig eine größere Rolle spielen.

In der Forschungsarbeit des politikwissenschaftlichen Teams wird die schwache Rolle der EU bei der Pandemiebekämpfung deutlich. Ein Zustand, den es nach Willen der EU-Kommission so zukünftig nicht mehr geben soll. Die Positionen des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) und der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) sollen nach dem Willen der EU dafür gestärkt werden. „Inwieweit dies die Rolle der EU im gesundheitspolitischen Krisenmanagement allerdings stärken kann, bleibt abzuwarten. Denn die politische Entscheidungsfindung über die gesundheitliche und medizinische Versorgung der nationalen Bevölkerungen bleibt nichtsdestotrotz ein ‚Stronghold‘ der Mitgliedstaaten. Zudem haben sich einzelne Regierungschefs unmittelbar gegen eine Ausweitung der gesundheitspolitischen Kompetenzen der EU ausgesprochen.“

Sonderheft zum weltweiten Vergleich

Die EU möchte also die aktuelle Krise nutzen, um sich neu aufzustellen. Inwieweit auch Staaten auf der ganzen Welt die Corona-Krise als politische Chance nutzen, ist ebenfalls ein Interesse des internationalen Teams: „Wir haben der Zeitschrift International Review of Administrative Sciences (IRAS) dazu die Herausgabe eines Sonderheftes angeboten, das bereits akzeptiert wurde“, erklärt Renate Reiter. „Die Aufsätze durchlaufen derzeit das Review-Verfahren.“ Unter ihnen ist auch ein Aufsatz der FernUni-Wissenschaftlerin, den sie gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen der Universität Potsdam und der Lund University (Schweden) verfasst hat und in dem es um den deutsch-französisch-schwedischen Vergleich geht. „Auch hier lautet unsere Kernthese, dass bei den Reaktionen an den jeweiligen Traditionen festgehalten wurde.“

Carina Grewe | 17.11.2020