Gesellschaftlichen Rahmen mitdenken

Soziale Arbeit muss auf die veränderte Lebenswirklichkeit im digitalen Zeitalter reagieren. FernUni-Forscher Maik Wunder ergründet, wie sie ihren Werten trotzdem treu bleiben kann.


Portrait Foto: FernUniversität
Bildungswissenschaftler Maik Wunder

Digitalisierung schafft Veränderung. Der Wandel betrifft auch das Feld der Sozialen Arbeit und all seine Akteurinnen und Akteure – egal ob sie Soziale Arbeit praktizieren, erforschen, erlernen oder von ihr profitieren. An der FernUniversität in Hagen setzt sich Dr. Maik Wunder mit Umbrüchen und Kontinuitäten in der Sozialen Arbeit auseinander. Der Bildungsforscher ist im Lehrgebiet Bildung und Differenz tätig. Vor kurzem führte er bei der zweitägigen Tagung „Digitalisierung und Soziale Arbeit – Transformationen, Beharrungen und Herausforderungen“ rund 120 Fachleute aus Forschung und Praxis zusammen. Den Austausch unter den Expertinnen und Experten hält er für unerlässlich. Es braucht einen gesamtheitlichen Blick, um Soziale Arbeit in Richtung Zukunft zu kalibrieren: „Früher hat sich die Welt auch verändert. Aber vor der Digitalisierung fand das Leben mit Medien statt. Jetzt verlagert sich die Lebenswelt zusehends in bestimmte Medien.“

Keine hermetischen Räume

Zum Beispiel wachsen viele junge Menschen längst innerhalb bestimmter Medien auf, erklärt Wunder. Augenscheinlich machen zahlreiche Apps, Games und Plattformen es den Kindern und Jugendlichen leicht, unter sich zu bleiben. Ein Grund zur Sorge? Der Bildungsforscher rät zur Differenzierung: „Es ist wichtig, dass es herrschafts- beziehungsweise pädagogikfreie Räume gibt.“ Seit jeher beschreibt die Wissenschaft verschiedene Jugendphasen und -kulturen. Der Drang, sich der Kontrolle von Erwachsenen zu entziehen, sei völlig normal: „Das war schon immer so!“ Vor den Pforten der digitalen Welt sollte Soziale Arbeit dennoch nicht halt machen. „Die Frage ist: Wie kann soziale Arbeit auch in diesen Räumen präsent sein und Angebote implementieren?“

Eine helfende Hand lässt sich überall reichen, da ist sich der Forscher sicher: „Vielleicht ist die Zugänglichkeit durch die Digitalisierung sogar größer geworden.“ Oft bleiben Sozialarbeitenden eher die realen Orte verschlossen; vieles findet buchstäblich hinter verschlossener Tür statt. Dahingegen sind Netzaktivitäten immer zu einem gewissen Grad transparent. „Womöglich sind viele Praktiken im virtuellen Raum offener als das, was Jugendliche in der ‚stillen Ecke an der Bushaltestelle‘ tun“, vermutet Wunder.

Frau im Rollstuhl und junger Mann schauen gemeinsam auf ein Tablet und lachen Foto: Maskot/Maskot/GettyImages
Faktor Mensch: Die Digitalisierung bietet viele Möglichkeiten im sozialen Bereich – etwa in Pflege und Betreuung. Trotzdem rät Maik Wunder, nicht unbedacht auf automatisierte Vorgänge zu setzen.

Umfassendes Verständnis fördern

Fest steht, dass das meiste, was im Web passiert, protokolliert, kommerzialisiert und auf viele Arten auswertbar gemacht wird. Das stellt alle Akteurinnen und Akteure Sozialer Arbeit vor Herausforderungen. Zwar können die gesammelten Daten in gewissen Szenarien für die Forschung und Praxis hilfreich sein. Entscheidend sei jedoch, dass Algorithmen die menschliche Kompetenz und Urteilskraft dabei nicht einfach überlagern. „Wenn künftig Algorithmen das Kindeswohl bewerten, inwieweit vertraue ich als Sozialarbeiter dann noch meiner Beobachtungsgabe, meiner eigenen Professionalität?“, nennt Wunder ein Beispiel. Reflektionsfähigkeit ist gefragt – und ein aufgeklärter Blick über den digitalen Tellerrand. Ganz im Sinne einer modernen Digital Literacy: „Es geht darum, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Architekturen zu erfassen. Wie ist zum Beispiel ein Algorithmus mit Macht- und Herrschaftsstrukturen verknüpft?“

Die abwägende Haltung zu neuen Medien ist für den Forscher dabei keine Frage des Alters. Offenheit oder Ablehnung lassen sich nicht demografisch bemessen: „Es gibt auch von Jüngeren eine unheimliche Technikskepsis und viele Vorbehalte. Natürlich bestehen gewisse Alterseffekte. Die beziehen sich jedoch meist auf eine simple Anwendungskompetenz.“ Das mangelnde Verständnis beim Bedienen von Geräten und Anwendungen sei nicht das Problem. „Das lässt sich auf viele Arten beheben – etwa durch Learning by Doing oder Fortbildungen.“

Echte Teilhabe ermöglichen

Doch wie soll Soziale Arbeit nun im digitalen Zeitalter aussehen? Die jüngst ausgerichtete Tagung hat hierauf verschiedenste Antworten gegeben. Für den Bildungsforscher selbst liegt ein wichtiger Schlüssel darin, die veränderte Lebenswirklichkeit ernst zu nehmen, ohne dem Digitalisierungsdruck inhaltlich nachzugeben: „Nehmen wir mal das Beispiel Streetwork. Ich glaube, es ist hier für Jugendliche sehr wichtig, überhaupt den Zugang zur digitalen Welt zu erhalten“, so Wunder. „Der Bus muss nicht ausschließlich mit konkreten Spielmöglichkeiten zu den Jugendlichen kommen, sondern eher mit kostenlosem WLAN. Dann sammeln sie sich im Umkreis und nutzen es.“ Die Zielgruppe braucht Hilfe dabei, mündig am neuen digitalen Leben partizipieren zu können – die eigentlichen Werte und Konzepte Sozialer Arbeit bleiben hingegen recht konstant.

„Ich glaube, die Arbeit an sich ändert sich nicht. Es zeigen sich nur alte Probleme in verschärfter Weise: zum Beispiel Fragen nach Ungleichheit, sozialer Teilhabe und Selbstermächtigung.“ Das fängt mit der Kontrolle über den digitalen Fußabdruck im Web an und hört mit der simplen Verfügbarkeit von Geräten auf. „Meine Forschung zu Corona, Digitalisierung von Schulunterricht in prekären Milieus hat gezeigt, dass viele Jugendliche nicht einmal eine Breitband-Internetanbindung zu Hause haben.“ Genauer hinschauen sollte hier nicht nur die Politik, auch die Wissenschaft muss ihren Blick nachjustieren. Der FernUni-Experte blickt trotzdem optimistisch in die Zukunft: „Es entstehen zurzeit verschiedene Professuren für Soziale Arbeit und Digitalisierung in Deutschland. Das kommt, steckt aber alles noch in den Kinderschuhen.“

Benedikt Reuse | 06.11.2020