Bildungsteilhabe an Schulen und Hochschulen massiv gefährdet

Die Ergebnisse der Studie zu Professionalität und Bildungsgerechtigkeit in der Corona-Krise sind alarmierend.


ein Schüler mit Gesichtsmaske sitzt am Schreibtisch Foto: Vesnaandjic/E+/Getty Images
Die Unterrichtsinhalte erreichen die Schülerinnen und Schüler. Aber der persönliche Kontakt zu den Lehrerinnen und Lehrern ist nach Einschätzung der Lehrenden unzureichend.

Wie erreichen Lehrende ihre Schülerinnen, Schüler und Studierenden in der Corona-Krise? Eine Studie der FernUniversität in Hagen zum FernUnterricht an Schulen und zur Fernlehre an Hochschulen zeigt: Die Bildungsteilhabe in der Corona-Krise ist an Schulen und Hochschulen massiv gefährdet. Als Grund dafür wird von den Befragten in erster Linie der unzureichende persönliche Kontakt zwischen Lehrenden und Lernenden angegeben. Infolge der Schul- und Hochschulschließungen zur Eindämmung des Corona-Virus mussten Lehrkräfte verstärkt auf digitale Werkzeuge zur Realisierung ihres Unterrichts und ihrer Lehre zurückgreifen.

Erste Ergebnisse liegen vor

„Trotz der Einschätzung, dass die Inhalte die Adressatinnen und Adressaten erreichen, sieht der Großteil der Lehrerinnen, Lehrer und Hochschullehrenden die Bildungsteilhabe massiv gefährdet“, stellt Projektleiterin Prof. Dr. Julia Schütz (Lehrgebiet Empirische Bildungsforschung) heraus.

Anfang April startete die offene Online-Umfrage zum Unterrichten und Lehren an allgemeinbildenden Schulen und Hochschulen in der Corona-Krise. Jetzt liegen erste Ergebnisse der Studie zur Professionalität und Bildungsgerechtigkeit in der Krise (ProBiKri-Studie) vor.

Illustration eines Kolibris Foto: Gerald Moll
Der Kolibri kann im Fliegen essen und als einziger Vogel auch rückwärts fliegen. Er ist also gewissermaßen ein Superathlet. Dennoch wird er oft übersehen, weil er klein ist - wie die interaktionalen Leistungen der Lehrkräfte und Lehrenden in Unterricht und Studium. Daher ist der Kolibri Botschafter der ProBiKri-Studie.

Einschätzung der Lehrenden

An der Befragung beteiligten sich bundesweit 837 Personen. Die Untersuchung fokussiert auf die Erfahrungen und Einschätzungen der pädagogischen Akteurinnen und Akteure. Sie fragt unter anderem danach, wie der digitale Unterricht bzw. die digitale Lehre in der Krise gelingt und inwieweit die Befragten eine gleichberechtige Bildungsteilhabe als gefährdet einschätzen. Darüber hinaus zielt die Studie auf das professionelle Handeln der Bildungspraktikerinnen und Bildungspraktiker unter den Bedingungen des Fernunterrichts bzw. der Fernlehre: „Gelingt es den Akteurinnen und Akteuren ein tragfähiges Arbeitsbündnis zu ihren Schülerinnen, Schülern und Studierenden herzustellen und wenn ja, wie?“, stellt Schütz als zentrale Frage heraus. „Das ist eine der wichtigsten Voraussetzungen zur Initiierung von Lern- und Bildungsprozessen.“

87 Prozent der befragten Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen schätzen, dass der von ihnen vermittelte Unterrichtsstoff bei ihren Schülerinnen und Schülern ankommt. Im Hochschulbereich geben 84 Prozent der Lehrenden an, dass dies der Fall sei. Und trotzdem: 78 Prozent der Lehrkräfte an Schulen und 65 Prozent der Hochschullehrenden sehen die gleichberechtigte Bildungsteilhabe ihrer Schülerinnen und Schüler bzw. Studierendenschaft gefährdet. Ob und inwieweit diese Einschätzung mit der Medienkompetenz der Befragten zusammenhängt, wird noch analysiert.

Persönlicher Kontakt unzureichend

Foto: Hardy Welsch
Prof. Dr. Julia Schütz leitet das Projekt „Professionalität und Bildungsgerechtigkeit in der Krise" (ProBiKri-Studie).

Als Begründung für die hohe Einschätzung der ungleichen Bildungsteilhabe nennen die Befragten den unzureichenden persönlichen Kontakt zu den Schülerinnen, Schülern bzw. Studierenden (Lehrerinnen und Lehrer 69 Prozent, Hochschullehrende 58 Prozent). Auch die bisher geführten Interviews der Studie deuten darauf hin, dass der persönliche Kontakt als Faktor für das Gelingen von Lehr-Lernprozessen benötigt wird. Zudem ist er ausschlaggebend für die Einschätzung darüber, ob angemessen, das heißt bildungsgerecht unterrichtet bzw. gelehrt wird. Die FernUniversität in Hagen setzt entsprechend ihrer langjährigen Erfahrung auf Blended-Learning-Ansätze in der Lehre. Das heißt, verschiedene Bausteine der Online- und Präsenzlehre werden miteinander kombiniert.

Rückkehr zu tradierter Rollenverteilung

Alarmierend vor dem Hintergrund der Diskussion um die Vereinbarkeit von beruflicher Tätigkeit im Homeoffice und Familienarbeit ist die Einschätzung der Hochschullehrenden, dass die gleichberechtigte Teilhabe am Studienangebot durch die unzureichende Betreuung der Kinder der Studierenden gefährdet sei. 51 Prozent der Befragten erachten dies als zentral. „Frauen kümmern sich vermehrt um die Kinderbetreuung während der Kita- und Schulschließungen und reduzieren die eigene Arbeitszeit“, nimmt Julia Schütz zudem die Rückkehr zu tradierten Rollenverteilungen beim Homeschooling in den Blick.

Interviews mit Expertinnen und Experten

Weitere Ergebnisse folgen und werden auf den Webseiten des Zentrums für pädagogische Berufsgruppen- und Organisationsforschung (ZeBO Hagen) zur Verfügung gestellt. Eine Differenzierung nach Schulformen und Hochschultypen ist geplant. Aktuell werden Interviews mit Lehrerinnen, Lehrern und Hochschullehrenden geführt. Darüber hinaus folgen Gespräche mit Expertinnen und Experten aus Bildungspolitik, Bildungsadministration und berufsständischen Vertreterinnen und Vertretern.

Carolin Annemüller | 27.05.2020