Corona und die Auswirkungen auf das Strafrecht
Wie die Corona-Krise unser Rechtswesen verändert und warum Gerichtsurteile aus dem Homeoffice keine Alternative sind, erklärt FernUni-Professor Osman Isfen im Interview.
Professor Isfen, die Corona-Krise belastet derzeit die Gerichte und hat erhebliche Auswirkungen auf die Rechtsprechung. Gerichtsverhandlungen werden verschoben oder wegen drohender Verjährung eingestellt wie im Loveparade-Fall. Müssen wir jetzt mit milderen oder sogar „minderwertigen“ Urteilen rechnen?
Prof. Dr. Osman Isfen: Nicht unbedingt, denn insgesamt sind ja die Grundsätze des Strafverfahrens mit der Corona-Krise nicht außer Kraft gesetzt. Der Grundsatz der Unmittelbarkeit gilt zum Beispiel nach wie vor. Das heißt, alle prozessrelevanten Personen müssen grundsätzlich im Gerichtssaal physisch anwesend sein, damit sich das Gericht ein vollständiges Bild machen kann. Solange dieser und andere Grundsätze des Strafprozesses weiterhin gelten, haben wir keine minderwertigen Urteile zu befürchten. Allerdings existieren auch Ausnahmen von althergebrachten Prinzipien des Strafverfahrens. Richterinnen und Richter haben beispielsweise die Möglichkeit, Strafverfahren ohne eine Hauptverhandlung zu Ende zu bringen – etwa per Strafbefehl. Dabei nehmen die Gerichte in bestimmten, einfach gelagerten Fällen, eine Verurteilung nach Aktenlage vor.
Gerichtsurteile aus dem Homeoffice wären wahrscheinlich keine Option?
Ein komplettes Strafverfahren als Video-Konferenz zu gestalten, bei dem in der Mitte der Richter eingeblendet ist, links der Verteidiger, rechts die Staatsanwaltin? Nein, das wird nicht gehen. Anders ist es im Zivilprozess, in dem leichter auf ein schriftliches Verfahren ausgewichen werden kann. Seit 2013 können dort Verhandlungen durchgeführt werden, bei denen nur ein Richter oder eine Richterin im Gerichtssaal sitzt und die restlichen Beteiligten zugeschaltet sind. Für das Strafverfahren ist eine solche Vorgehensweise ausgeschlossen. Der Gesetzgeber hat in der gegenwärtigen Situation vielmehr an anderen Schrauben gedreht, so vor allem mit einer sinnvollen Erweiterung der Unterbrechungszeiträume. Trotzdem bleibt es anspruchsvoll für die Strafgerichte in Deutschland, die derzeit einen Notbetrieb in Eilsachen fahren. Nach der Corona-Zeit wird der abzuarbeitende Berg groß sein.
Eine weitere weitreichende Herausforderung, mit der sich die deutsche Justiz derzeit ernsthaft auseinandersetzen muss, ist die Triage-Problematik: Wenn die Kapazitäten der Krankenhäuser nicht mehr ausreichen und Ärztinnen und Ärzte entscheiden müssen, wen sie behandeln und wen nicht. Wie sieht die Rechtslage dazu aktuell in Deutschland aus?
In manchen Ländern wie Italien, Spanien oder Frankreich wurden bisher theoretische Überlegungen nun schreckliche Realität: Auf einmal muss dort massenweise entschieden werden, wem die beschränkten Behandlungskapazitäten der Krankenhäuser zugutekommen sollen. Bei vielen älteren Patientinnen und Patienten wird eine Behandlung erst gar nicht begonnen. In Deutschland sind wir bisher zum Glück davon verschont geblieben. Fest steht, dass bei uns bestimmte Kriterien nicht pauschal zur Auswahl herangezogen werden dürfen, so insbesondere nicht das Alter, das Geschlecht oder die Herkunft der Patienten. Das verbieten der Gleichbehandlungsgrundsatz unserer Verfassung und die Menschenwürde. Ein 80-jähriger Mensch mit Vorerkrankungen genießt den gleichen Lebensschutz wie ein neugeborener Säugling, der das Leben noch vor sich hat.
Wären nicht konkrete Vorgaben nötig, damit Ärztinnen und Ärzte Rechtssicherheit haben, wenn sie in Notfallsituationen das Sterberisiko beurteilen müssen?
Vorsorglich haben die Zusammenschlüsse und die Vereinigung von Intensivmedizinern Empfehlungen ausgegeben, wie sich Ärztinnen und Ärzte in Triage-Fällen verhalten sollten. Demnach sollen sie die Genesungschancen als oberstes Kriterium beurteilen. Aber natürlich sind nicht alle Fälle dermaßen eindeutig. Was machen Sie, wenn fünf 30-Jährige mit ähnlichen Genesungschancen eingeliefert werden, aber nur ein Beatmungsgerät zur Verfügung steht? Denkbar wäre, „systemrelevante“ Personen bevorzugt zu behandeln, also Ärzte und Pflegepersonal, damit diese gesund werden und anderen Patienten bei der Behandlung zur Verfügung stehen. Oder man könnte auch das Los entscheiden lassen. Doch diese Kriterien festzulegen, das ist ethisch äußerst herausfordernd. Ich bezweifle, dass sich der Gesetzgeber in dieses Minenfeld hineinwagt.
Der Staat hat derzeit viele Entscheidungen zu treffen, doch wie weit können diese auch noch gelten, wenn wir die Krise irgendwann überstanden haben?
In diesem Zusammenhang fällt mir der Datenschutz ein. Stichwort Tracing-App. Die Rückverfolgung von Personen anhand der Smartphone-Daten wird gerade mit offenem Ausgang diskutiert. Das ist sicherlich ein Thema, an das man sich ohne den Druck durch das Coronavirus nicht so schnell herangewagt hätte, doch jetzt ist zur Lokalisierung von Infektionen plötzlich eine datenschutzkonforme Lösung gefordert. Solche Fragestellungen werden uns auch nach Corona noch lange in grundsätzlicher Form beschäftigen. Und wenn Sie die Digitalisierung als solche betrachten, ist die Corona-Krise auch eine Art Innovationsschub – für Unternehmen, die auf Homeoffice umgestellt haben, für Schulen, die andere Lehrformen ausprobieren und auch für die Studierenden.
Sie lehren Strafrecht an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der FernUniversität in Hagen. Was möchten Sie Ihren Studierenden im Umgang mit der Corona-Krise mit auf den Weg geben?
Spätestens jetzt sollten die Studierenden digital gut aufgestellt sein. Vor allem der effektive Umgang mit den mittlerweile umfänglich zur Verfügung stehenden Datenbanken ist ein Muss für alle. Denn wie sich zeigt, können sich auch Juristinnen und Juristen nicht immer darauf verlassen, klassisch mit Papierakten und dicken, gedruckten Büchern zu hantieren.
Herr Professor Isfen, vielen Dank für das Interview.
Sehr gerne, bleiben Sie gesund.