Auf den Weg durch die Instanzen gemacht, um Unfug zu verhindern

Ingrid Matthäus-Maier, seit mehr als 50 Jahren aus Überzeugung Sozialliberale, schilderte im „Lüdenscheider Gespräch“ der FernUniversität ihr Leben. Jetzt online: der Videostream.


Foto: FernUniversität
Auf großes Interesse stieß auch das Lüdenscheider Gespräch mit Ingrid Matthäus-Maier wieder.

74 Jahre und kein bisschen leise: Selbstbewusst und konsequent präsentierte sich Ingrid Matthäus-Maier in der Vortragsreihe „Lüdenscheider Gespräche“ der FernUniversität. Mit klaren Worten machte sie unter dem Titel „‚Pragmatische Phantasie‘ in der Politik – sozial, liberal und streitbar“ ihre Standpunkte in 30 Jahren Politik ebenso deutlich klar wie ihre Meinung über politische Gegner und Freunde. Auch zu den „Hass-Geschichten“, die heute in der Politik immer mehr gang und gäbe werden, äußerte sie sich: „Was hier stattfindet, das gab es früher nicht!“ Eingeladen hatten sie das Institut für Geschichte und Biographie der FernUniversität in Hagen und die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Archiv des Liberalismus/Public History.

Als Jura-Studentin gehörte Ingrid Matthäus-Maier der Humanistischen Studentenunion (HSU) an. In Münster war sie Mitbegründerin der APO, der Außerparlamentarischen Opposition: „Im Studentenparlament haben wir – HSU, Sozialistischer Deutscher Studentenbund und Sozialdemokratischer Hochschulbund – die erste sozialliberale Koalition gemacht“. 1969 traten sie und ihr Mann in die FDP ein, denn nur mit einem starken linksliberalen Flügel bei den Freien Demokraten war die sozialliberale Koalition möglich: „Wir waren immer Sozialliberale.“

Wer etwas verändern will, muss die Macht wollen

Der Grund dafür, in die Politik zu gehen, waren die Notstandsgesetze, insbesondere „das Abhören“, und die Erkenntnis, dass es „‚nur außerparlamentarisch‘ nicht geht“. Um etwas zu verändern müsse man die Macht wollen. Insofern wäre für sie der Verbleib der SPD in der aktuellen Großen Koalition logisch.

„An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern“, zitiert Matthäus-Maier den Schriftsteller Erich Kästner. „So habe ich mich auf den Weg gemacht, Unfug zu verhindern.“ Ganz im Sinn der APO mit einem Marsch durch die Institutionen: „Ich möchte etwas erreichen.“

An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern.

Erich Kästner (Schriftsteller, 1899 - 1974)

Für Ingrid Matthäus-Maier stimmt die Realität in Deutschland jedoch oft nicht mit dem Grundgesetz überein. Das gilt heute für sie z.B. bei der sozialen Gerechtigkeit, der Gleichberechtigung und dem selbstbestimmten Sterben in Würde.

Also müsse die Wirklichkeit so verändert werden, dass sie dem Grundgesetz entspreche, das für die Juristin „eine der besten Verfassungen der Welt“ ist.

Politik mit Haken, Ösen und Tricksereien

Foto: Ludwig Wegmann
Ingrid Matthäus-Maier beim FDP-Bundesparteitag 1974...

1972 wurde Ingrid Matthäus-Maier Vorsitzende der rebellischen FDP-Nachwuchsorganisation Jungdemokraten – als erste Frau. Wiedergewählt wurde sie nicht, denn „die Frau ist zu autoritär, die wollen wir nicht mehr“. Das gab ihr die Chance, ihr zweites Juristisches Staatsexamen zu machen – für sie eine Chance: „Wir haben zu viele Leute in der Politik, die haben keinen ordentlichen Beruf. Sie müssten erst einmal wissen, was es heißt, Geld zu verdienen.“

Schnell merkte sie, wie Politik gemacht wird: auch mit Haken, Ösen und Tricksereien. So wurde sie 1976 erst im zweiten Anlauf für den Bundestag aufgestellt, in den sie als jüngste Abgeordnete einzog. Schon in ihrer ersten Rede griff sie den auch von ihr ansonsten sehr geschätzten liberalen Innenminister Werner Maihofer heftig an, weil sie seine Haltung zum Abhören für grundgesetzwidrig hielt.

Bruch mit Hans-Dietrich Genscher

Offensichtlich konnte sie mit Niederlagen umgehen, sofern nicht „Fiesigkeiten“ im Spiel waren. Dies allerdings war nach ihren Worten der Fall, als die FDP 1982 aus der sozialliberalen Koalition mit der SPD ausstieg. Dem damaligen Vizekanzler Hans-Dietrich Genscher (FDP) hat Ingrid Matthäus-Maier nie verziehen, dass er bei einem Wahlparteitag für die Bundestagswahl 1980 versprochen hatte, „für vier Jahre Helmut Schmidt“ zu stehen und dass er nun mit der CDU eine neue Koalition bildete: „Wenn neu gewählt worden wäre, wäre es ein ordentlicher demokratischer Ablauf gewesen.“

Nach Matthäus-Maiers Worten war es ein von langer Hand vorbereiteter Coup Genschers, über den er sie belogen habe. Sie redete nie wieder mit ihm, anders als mit Otto Graf Lambsdorff, der offen für das Ende der Koalition votiert hatte.

Bundestagsmandat nicht mitgenommen

Matthäus-Maier trat aus der FDP aus, legte ihr Bundestagsmandat nieder, wurde Richterin. Willy Brandt und Johannes Rau fragten sie dann, „ob ich nicht als Sozialliberale für die SPD kandidieren wolle; sie haben an keiner Stelle je gesagt, da und da musst du deine Meinung ändern, sondern ich war und blieb die Gleiche, die ich bin“. Und somit eckte sie auch in der SPD wieder an: „Ich habe in beiden Parteien fünf- bis zehnmal anders abgestimmt als die Fraktion.“

In der SPD hatte sie es nicht leicht, weil die Flügel sehr viel schärfer miteinander umgingen und sie bei den Themen Gleichberechtigung, Umweltschutz und Datensicherheit eher zum linken Flügel gehörte, bei Wirtschaft und Finanzen eher zum rechten. Trotzdem kam sie bis in den SPD-Parteivorstand.

Heimatlose Sozialliberale

War ihr die FDP zu wenig sozial, die SPD zu wenig liberal? Sie selbst sieht sich jedenfalls als „heimatlose Sozialliberale“.

Foto: FernUniversität
... und 2020 beim Lüdenscheider Gespräch der FernUniversität.

Heute folgen die Bundestagsabgeordneten nach ihren Beobachtungen zu wenig ihren eigenen Überzeugungen. Auch die der SPD hätten sich z.B. 2015 zu wenig gegen Kirchen und konservative CDU-Politikerinnen und CDU-Politikern gewehrt, als es um eine Gesetzesverschärfung beim selbstbestimmten Sterben ging. Nach Matthäus-Maiers Verständnis gibt es laut dem Grundgesetz keine Staatskirche. Doch tatsächlich gebe es sogar zwei. Dagegen kämpft die Atheistin bis heute.

Zur Zeit der Wende konnte die Finanzexpertin wieder „pragmatische Phantasie“ in die Politik einbringen. Sie war die Erste, die die deutsch-deutsche Währungsunion ins Gespräch brachte. „Die hat sie nicht mehr alle“, kommentierte Finanzminister Theo Waigel (CSU). Doch Kanzler Helmut Kohl schloss sich ihrer Meinung später an. SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine war zunächst dafür, dann dagegen.

1998 fragte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) die Finanzexpertin, ob sie Vorstandsmitglied der Kreditanstalt für Wiederaufbau werden wollte – eine Aufgabe, die sie reizte, weil sie das Konzept der KfW überzeugte, weil es für die Gleichberechtigung gut war und weil sie mit Schröder „nicht so gut konnte“. 1999 bis 2008 war sie Vorstandsmitglied, seit 2006 Vorstandssprecherin der KfW-Bankengruppe und damit erste Frau an der Spitze einer deutschen Großbank. Im Jahr 2007 kürte „Fortune“ sie zur „mächtigsten Frau der Bundesrepublik“, weltweit sah das US-amerikanische Magazin sie auf Platz 31 bei den Frauen. 2008 trat sie zurück, nachdem die KfW als Großaktionärin die IKB-Bank wegen deren zweifelhafter Geschäfte mit Riesensummen stützen musste.

Gerd Dapprich | 21.02.2020