Der Okkupation der Geschichte durch den Populismus entgegentreten

Prof. Felicitas Schmieder (FernUniversität) weiß, dass sie und ihre Kolleginnen und Kollegen sich einer neuen gesellschaftspolitischen Herausforderung stellen müssen.


Ein Gruppe von Demionstranten. Foto: Antony Crider / Wikimedia Commons
„Unite the Right Rally“ in Charlottesville (USA) im Jahr 2017: Die Gesinnung der Demonstranten zeigt sich unter anderem in der mitgeführten Hakenkreuz-Fahne.

Wissenschaft ist nicht statisch. Neue Erkenntnisse verändern nicht nur die Sicht der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf ihre Forschungsgegenstände, sondern auch auf ihr eigenes wissenschaftliches Selbstverständnis. Prof. Dr. Felicitas Schmieder, Historikerin an der FernUniversität in Hagen, weiß, dass sie und ihre Kolleginnen und Kollegen sich einer neuen gesellschaftspolitischen Herausforderung stellen und aktive Aufklärungsarbeit leisten müssen, um der Okkupation der Geschichte durch Populistinnen und Populisten entgegenzutreten. Damit erhält das Fach auch (wieder) eine politische und aktive demokratische Dimension.

Foto: Veit Mette
Prof. Felicitas Schmieder

Die Aufgabe von Historikerinnen und Historikern sei es nicht, z.B. eine „europäische Identität zu stiften“, sondern Populistinnen und Populisten zu widersprechen, die eindeutige, einfache Antworten geben wollen: „Dabei ge- oder missbrauchen sie die Geschichte.“ Die Geschichtswissenschaft müsse vielmehr möglichst vielen Leuten nahebringen, dass es immer Alternativerzählungen gibt und nie die eine Wahrheit: „Das ist Geschichtsvermittlung, und sie ist extrem wichtig für uns. Wenn wir friedlich zusammenleben wollen, müssen wir die Alternativerzählungen der anderen kennen und sehen, was und wie sie denken. Ich darf selbst überzeugt sein, dass meine Geschichte für mich die richtigere ist, aber ich muss wissen, dass es das Recht der anderen ist, ihre eigene Geschichte zu haben.“

Wie wirkt Geschichte in unserem Bewusstsein?

Schmieders Lehrgebiet „Geschichte und Gegenwart Alteuropas" geht es nicht nur um die Abfolge geschichtlicher Ereignisse in dem „historischen Kulturraum Europa“, sondern auch darum, wie seine vormoderne Geschichte in unserem heutigen Bewusstsein wirkt: Wie kann das mittelalterliche Europa als Identitätsstifter für das moderne Europa dienen? Wie beeinflussen objektive historische Fakten und „Bilder von der Vergangenheit“ unsere europäische Identität?

Ich darf selbst überzeugt sein, dass meine Geschichte für mich die richtigere ist, aber ich muss wissen, dass es das Recht der anderen ist, ihre eigene Geschichte zu haben.

Prof. Felicitas Schmieder

„Jede Nationalgeschichte spiegelt eine andere Antwort auf Europa wider, daher versteht jede Gesellschaft das heutige Europa historisch begründet anders“, erklärt Schmieder. „Wir Historikerinnen und Historiker müssen diese unterschiedlichen Antworten vergleichen, um zu erkennen, wie eine moderne ‚europäische Identität‘ gebaut werden kann. Wenn wir Menschen in Europa glauben, dass wir alle eine einheitliche Sicht haben, reden wir aneinander vorbei.“ Denn die Blickwinkel der Gesellschaften auf gemeinsame Historien sind völlig unterschiedlich und oft genug kontrovers, weil die überlieferten Geschichten der Regionen und Völker sich so stark unterscheiden.

So ist der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen in Den Haag besorgt, weil als Kriegsverbrecher in den Balkan-Kriegen Angeklagte und Verurteilte in ihren Heimatländern als Helden gefeiert werden. Hieran zeige sich jedoch, wie unterschiedlich die Auffassungen von „richtig“ und „falsch“ sind und wer Recht habe und wer nicht, so Schmieder: „In Europa und in Deutschland haben wir ja bereits zu Beginn der Kriege auf dem Balkan ab 1991 ‚ganz genau gewusst‘: Die Albanerinnen und Albaner sind die guten Unterdrückten und die Serbinnen und Serben die bösen Unterdrückerinnen und Unterdrücker. Die serbische Geschichtserzählung ist eine andere, sie ist nicht minder richtig und nicht minder falsch, aber sie ist berechtigt: ‚Wir haben im Mittelalter im Kosovo, auf dem Amselfeld, zweimal Europa gegen die Osmanen verteidigt.‘ Die muslimischen albanischen Menschen dagegen sind die Osmanen. Nach serbischer Auffassung vergisst Europa das heute.“ Wegen dieser geschichtlichen Sicht könnte Serbien das Kosovo nicht aufgeben, so Schmieder: „Wer im Westen weiß das? Die Erzählung mag der Grund für Kriege sein, aber sie ist berechtigt. Das heißt noch lange nicht, dass die Albanerinnen und Albaner, die ihre Autonomie haben wollen, Unrecht haben!“

Von Europa vergessen

Auch Schweden fühlt sich aufgrund seiner Lage von Europa vergessen, stellte Schmieder bei einem Forschungsaufenthalt in Stockholm fest, dabei war es im Mittelalter über viele Jahrhunderte eng mit dem heutigen Mitteleuropa wirtschaftlich, religiös und territorial verbunden. Gleichzeitig allerdings fehlen die nordischen Länder auf Karten Europas aus jener Zeit großenteils. Sie fehlen auch heute noch im mitteleuropäischen Bewusstsein vom Kontinent.

Foto: Hermann Rex (gest. 1937)
Einen infernalischen Höhepunkt erlebte die deutsch-französische „Erbfeindschaft“ im Ersten Weltkrieg. Foto: In der „Hölle von Verdun“ stürmten im März 1916 deutsche Soldaten mit Handgranaten und Flammenwerfern eine französische Stellung. Könnte diese „Erbfeindschaft“ eines Tages wiederkommen?

Es gebe in Europa viele solcher „aufeinanderprallender Geschichten“, die man kennen müsse, um vernünftige europäische Politik zu machen, mahnt die Wissenschaftlerin. Sogar die deutsch-französische ‚Erbfeindschaft‘ könne eines Tages wiederkommen: „Wir vergessen doch jetzt schon, wie wichtig es ist, Frieden in Europa zu haben. Es gibt hinreichend Gründe, die Geschichten der Länder zu erzählen. Das müssen wir aufarbeiten.“

In Deutschland sei dabei die größte Schwierigkeit, „dass wir Angst haben, auch als Historikerinnen und Historiker.“ Es gab hinreichend Historikerinnen und Historiker, die sich in den 1920er und 1930 Jahren, aber auch schon im 19. Jahrhundert, in den Dienst einer Ideologie oder Diktatur gestellt haben. „Es ist jedoch nicht Aufgabe von Historikerinnen und Historikern, Nationalbewusstsein zu schaffen“, betont Schmieder.

Gegen Populistinnen und Populisten positionieren

Es ist immer komplizierter, Alternativen abzuwägen, als „die eine Wahrheit“ zu schlucken: „Aber es ist letztendlich auch unsere Aufgabe als Historikerinnen und Historiker, den Menschen klarzumachen: Wenn Populistinnen und Populisten euch erzählen, ‚Wir haben die ‚richtige Geschichte, vergesst den alten Kram, der uns ein schlechtes Gewissen machen soll!‘, müsst Ihr aufstehen und sagen können: ‚Nein, stimmt nicht! Und zwar aus folgenden Gründen…‘“

Die Schlussfolgerung dieser neuen Denkweise, die sich bei Historikerinnen und Historikern immer weiter verbreitet: „Wir müssen uns gegen Populistinnen und Populisten positionieren, das ist unsere Pflicht! Wir beobachten überall, auch in der Gesellschaft, eine Polarisierung: Wer lauter schreit, hat Recht. Auch dann zu sagen, ‚Leute, geht davon aus, dass beide Seiten Recht haben‘, bringt uns im Zweifelsfall die Antwort ein: ‚Du kannst nicht sagen, was wahr ist.‘ Das stimmt, ich kann aber sagen: Es gibt alternative Interpretationen – und das hat nichts mit alternativen Wahrheiten und Fakten zu tun. Unglücklicherweise werden wir nicht zu der einen Wahrheit durchdringen, also müssen wir akzeptieren, dass auch andere Recht haben können.“

Lernen, wieder miteinander zu reden

Europa-Skeptikerinnen und Europa-Skeptiker zum Beispiel findet man nach Schmieders Worten nicht nur unter Rechtsorientierten und rechten Populisten: „Die meisten britischen Befürworterinnen und Befürworter des Brexit sind konservativ, aber es gibt auch Labour-Anhängerinnen und Labour-Anhänger, die dafür sind. Und in Schweden wollen vor allem die ganz Linken raus aus der EU.“

Die Gesellschaft müsse lernen, wieder miteinander zu reden. „Auch mit den Populistinnen und Populisten, wir können nicht einen erheblichen Teil der Bevölkerung ignorieren.“

Gerd Dapprich | 29.11.2019