Wirtschaftliche Integration Europas noch unvollendet
Europa 2019: Die ökonomischen Integrationsvorteile wurden genutzt, um das viel wichtigere Ziel der Friedenssicherung zu erreichen. Hierzu äußert sich Prof. Helmut Wagner.
Eine geteilte Bilanz der Integration Europas zieht der Volkswirt Prof. Dr. Helmut Wagner von der FernUniversität in Hagen. Besonders erfolgreich war sie im Hinblick auf das zentrale Ziel „Friedenssicherung“: „Wir hatten noch nie in der Neuzeit eine so lange Zeit des Friedens und Zusammenwachsens im Bereich der europäischen Integrationsländer.“ Dieses politisch-soziale Projekt war Anfang der 1950er Jahre der tatsächliche Auslöser für die Einigung Europas, so der Inhaber des Lehrstuhls Makroökonomie. Die wirtschaftlichen Ziele waren, so Helmut Wagener, nur Mittel zum Zweck, sie werden jedoch viel stärker mit der Europäischen Union identifiziert.
Bevor die ursprüngliche Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957 gegründet wurde, drehten sich aufgrund der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs ab etwa 1950 erste Überlegungen um ein politisches Projekt zur langfristigen Friedenssicherung. Prof. Wagner: „Man erkannte jedoch schnell, dass rein moralische Appelle an die Bevölkerungen wenig nutzen würden, dafür waren die Aversionen noch viel zu groß.“ Das politische „Projekt Friedenssicherung“ war nur mit dem Versprechen allseitiger wirtschaftlicher Vorteile zu schaffen: Eine immer engere ökonomische Zusammenarbeit sollte den Menschen die vielen Vorteile friedlichen, vertrauensvollen Zusammenlebens und gemeinsamen Handelns zeigen.
Wirtschaftliche Vorteile
So wurden in dem Vertrag, mit dem Frankreich, Italien, Belgien, Luxemburg, die Niederlande und die Bundesrepublik Deutschland am 25. Mai 1957 die EWG gründeten, ökonomische Zielsetzungen genannt: bessere und ähnliche Lebensstandards, Integration der Volkswirtschaften, stetiges und ausgewogenes Wirtschaftswachstum, Stabilität und engere staatliche Beziehungen. Damit fiel auch der Startschuss für eine harmonische Entwicklung und die Integration Europas, um Vertrauen durch gegenseitiges Kennenlernen – auch durch grenzüberschreitende Kontakte und Treffen – zu bilden.
Nach zehn Jahren zeigte sich: „Die EWG war ein voller Erfolg.“ Das Wirtschaftswunder in Deutschland und einigen anderen Ländern wurde auch im Zusammenhang mit der Integration gesehen. Diese sollte durch eine wirtschaftspolitische Zusammenarbeit in einer Wirtschaftsunion intensiviert werden, die schließlich durch eine gemeinsame Währung „gekrönt“ werden sollte. Sie wurde im Vertrag von Maastricht 1992 vereinbart und vom 1. Januar 1999 bis zum 1. Januar 2002 eingeführt: Der Euro sollte die Integration weiter fördern und zur Angleichung der Lebensstandards beitragen, vor allem in den ärmeren süd- und osteuropäischen Ländern. Zudem sollte der Euro den Handel sowie den Technologie- und Wissenstransfer erleichtern und zur Inflationsminderung beitragen.
Wichtigstes Ziel erreicht
„Wenn man die Zielerreichung heute prüft, kann man sagen: Das politische Projekt der Friedenssicherung ist gelungen“, betont Wagner. „Auch eine gewisse Vertrautheit ist geschafft worden, gegenseitiges Desinteresse und Abneigung wurden abgebaut.“ Vor allem die Jüngeren begreifen sich eher als Europäerinnen und Europäer. Viele Freiheiten wurden erlangt, etwa problemlos in anderen Ländern arbeiten zu können. In gewissem Sinn wurden auch die wirtschaftlichen Ziele realisiert. Der Handel und grenzüberschreitende Investitionen intensivierten sich, das Entwicklungstempo stieg, es kam zu einer gewissen Angleichung der Lebensstandards. Wirtschaftliche und politische Stabilität wurden erhöht.
Die Europäische Integration hat aber auch Risiken, Schwächen und Kosten mit sich gebracht oder vergrößert: „Vor allem durch die Euro-Einführung ist eine erhöhte Krisenanfälligkeit entstanden.“ So können die schwächeren Euro-Länder ihre Währungen nicht mehr abwerten, um ihre exportierende Industrie bei Bedarf zu unterstützen.
Hoffnungen enttäuscht
Das zweite Risiko: „Wenn man in einer Gemeinschaft wie dem EU- oder dem Euro-Club Mitglied ist, kann man in Krisensituationen auf Hilfen hoffen. Die Hoffnung vieler südlicher und östlicher Länder auf Hilfe ohne Auflagen wurde jedoch enttäuscht. Deutschland und andere haben sich wohlweislich immer dagegen gewehrt, nach Krisen ohne Konditionen – also etwa den Staatshaushalt auszugleichen und die Staatsschulden zu verringern – zu helfen.“ Ansonsten wäre eine Angleichung der Lebensstandards kaum ohne dauerhafte Transferzahlungen möglich gewesen. Hilfebedürftige Länder wie Griechenland mussten Reformen zusagen und oft strenge, teure und für die Bevölkerung schmerzhafte politische Vorgaben in Kauf nehmen. Wagner: „Die Bevölkerung nimmt Hilfen als selbstverständlich hin, die Bedingungen aber nicht. Durch die geforderte strenge Disziplin brechen frühere Animositäten wieder auf.“
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Ein drittes Risiko entstand in den 1990er Jahren, als nach dem Zusammenbrechen des Ostblocks postkommunistische Länder aufgenommen werden sollten: „Die Unterschiede zu den bisherigen Mitgliedern waren sehr groß. Das war ein gewisser Bruch zu früher, als nur Länder mit ähnlichem Entwicklungsstand Zutritt hatten.“
Strategische Entscheidungen
Doch die Politik wollte die osteuropäischen Länder, die mit der Marktwirtschaft noch nicht vertraut waren, aus strategischen Gründen nicht in Richtung Russland abwandern lassen. Ökonominnen und Ökonomen mussten nun Lösungen für etwas finden, was sie im Grunde weder für sinnvoll noch für machbar hielten: die vorschnelle Integration von strukturell unterentwickelten Ländern, die eigentlich noch nicht beitrittsfähig waren.
Zum Vierten war die Konzeption des Vertrages von Maastricht für Wagner mangelhaft: „Man war einfach zu optimistisch, dass das gutgehen würde. Die südlichen Länder wollten überhaupt keine Krisenvorkehrungen. Deutschland bestand zwar auf Vorkehrungen für ein Risikomanagement, doch dass der Vertrag trotzdem zu löchrig war, merkt man heute.“ Er gab zwar den Ländern Reformanreize, um die Vorgaben für eine Aufnahme zu erfüllen. Aber nur vor dem Beitritt. Für Wagner ein Riesenproblem: „Sobald man Clubmitglied ist, nehmen die Anreize ab. Nach dem Beitritt kann kein Staat mehr herausgeworfen werden, die Sanktionsmöglichkeiten sind sehr überschaubar.“
Einheitliche Strukturen
Schon 1957 war gesehen worden, dass es ähnliche Lebensstandards nur mit einer Angleichung der institutionellen Strukturen der Mitgliedsländer geben konnte. Dabei geht es zum Beispiel um Korruption und Transparenz: „Wenn sehr unterschiedliche Länder ‚in einen Topf geworfen werden‘, ist es sehr schwierig, einen solchen Prozess hinzubekommen.“ Im Euro-Club ist das noch viel wichtiger, weil seine Mitglieder ihre Währungen nicht mehr abwerten können und sie damit noch stärker voneinander abhängig sind.
Ist dieses Ziel erreicht worden? Prof. Wagner: „Mein Lehrstuhl konnte in verschiedenen Studien zeigen, dass nur bei einem Teil der Länder ab Mitte der 1980er und dann nach 1990 diese unbedingt notwendige Angleichung erreicht wurde. Solange sie noch nicht Mitglieder im EU- und im Euro-Club waren, haben sie sich angestrengt. Vor allem die, die in die EU wollten. Nach dem Beitritt ließ das etwas nach. Waren sie dann auch noch im Euro-Club, flachte der Reformeifer ziemlich ab.“ Die Angleichung der Lebensstandards gelang zwar insgesamt ein wenig besser, als es zu erwarten gewesen war, allerdings „auf Kosten riesiger Transferzahlungen“.
Chancen unterschiedlich genutzt
Diese Zahlungen hatte man eigentlich durch die Strukturangleichungen vermeiden wollen, zumal sie in den Helferländern Unmut erzeugen: „Das ist nicht gelungen, weil man eben aus politischen Prioritätszielen auch sehr unterentwickelte und strukturell verschiedene Länder hinzugenommen hat.“ Einige, wie Irland, Finnland und die baltischen Staaten, reformierten sich grundlegend. Bei einigen südlichen Ländern dürften aber noch jahrzehntelang Transferzahlungen nötig sein, weil die institutionell-strukturelle Angleichung nicht wirklich vorankommt.
Hinzu kam, dass neue Konfliktfelder die Integration behinderten. Durch die Migration gibt es mit Polen, Tschechien und Ungarn sowie südlichen Ländern Konflikte, die auch mit deren innerstaatlichen Entwicklungen zusammenhängen: „Sie weigern sich, gewisse institutionelle Reformen – Demokratisierung, Korruptionsbekämpfung etc. – weiter voranzuführen und pochen auf ihre nationale Souveränität. Sie kümmern sich immer weniger um die Regeln der EU.“
Das mag nicht zuletzt daran gelegen haben, dass sie innerhalb kürzester Zeit tausende Gesetze und Verordnungen verabschieden mussten, die nie wirklich umfassend debattiert wurden: „Heute empfinden das viele als Überrumpelung und Übernahme eines fremden polit-ökonomischen Modells mit unerwarteten moralischen und psychologischen Folgen. Es ist für sie, als hätten sie ihre eigene nationale Identität verloren. Im Vergleich zur EWG-Gründung und früheren Aufnahmen von besser vorbereiteten Ländern in die EU mit auf Jahrzehnte angelegten Prozessen lief später vieles chaotisch ab.“