Was wissen Kinder von Europa?

Europa 2019: Kinder können mit Europa erstaunlich viel anfangen, hat Markus Tausendpfund von der FernUniversität festgestellt. Sie kommen damit vielfältig in Kontakt.


Ein Mädchen steht vor einem blauen Tuch mit gelben Sternen und hält kleine Flagge europäischer Staaten in den Händen. Foto: David De Lossy_Photodisc_Getty Images
Auch Grundschulkinder können bereits...

Beim Bezahlen mit dem Euro, beim Urlaub mit den Eltern in Frankreich oder auch bei den Kindernachrichten von ARD und ZDF: Auf unterschiedliche Weise kommen bereits Grundschüler mit Europa und der Europäischen Union (EU) in Berührung. Das frühe Kennenlernen dieses „fernen“ politischen Systems bildet eine wichtige Grundlage, um fundierte Kenntnisse über die Staatengemeinschaft erwerben zu können. Was wissen Kinder aber überhaupt von Europa?

Studie mit Sechs- bis Zehnjährigen

„Viel mehr, als man ihnen zutraut!“ Dr. Markus Tausendpfund spricht von Grundschulkindern, denen viele – auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern – nicht zutrauen, „dass sie schon etwas mit der EU anfangen können.“ Der Sozialwissenschaftler an der FernUniversität in Hagen hat zusammen mit Dr. Simone Abendschön, Professorin an der Justus-Liebig-Universität Gießen, in einer empirischen Studie mit Sechs- bis Zehnjährigen festgestellt: „Bereits viele Erstklässler verfügen über ein rudimentäres politisches Faktenwissen von der EU. Zehnjährige haben oft schon ein Grundverständnis.“ Wichtig ist dieses Ergebnis, weil so schon in sehr jungen Jahren wichtige europäische Werte wie Freiheit, Demokratie, Toleranz oder Gleichberechtigung vermittelt werden könnten. Wenn die Kinder älter werden, ist es für die Internalisierung oft zu spät.

Foto: Ekkehard Streit Fotografie_Moment_Getty Images
... die Flaggen europäischer Länder den jeweiligen Staaten zuordnen.

Befragt wurden dieselben Kinder zu Beginn und zum Ende der ersten Grundschulklasse sowie zum Ende der vierten. 78 Prozent der Viertklässler wussten, dass die Europäische Union keine Stadt ist, sondern dass sie von mehreren Staaten gebildet wird (erste Befragung: 17 Prozent). Der Hälfte war am Schulende bekannt, dass man in vielen europäischen Ländern – aber nicht in allen – mit dem Euro zahlen kann. Selbst Flaggen verschiedener europäischer und nicht europäischer Ländern konnten viele zuordnen, ebenso die Europaflagge.

Große Rolle der Sprachkompetenz

Dieses Ergebnis widerspricht der häufig geäußerten Vermutung, dass erst Kinder ab der siebten Klasse sich unter dem abstrakten Begriff „Europa“ etwas vorstellen können: „Grundschulkinder erfahren einiges durch Nachrichten, Reisen und Gespräche mit Eltern. Auch in der Schule spielt die EU eine gewisse Rolle. So können sie bereits unser nationales politisches System als einen Teil einer übergeordneten europäischen Struktur kennenlernen, in der manche wichtigen Entscheidungen in Brüssel getroffen werden“, berichtet der Leiter der Hagener Arbeitsstelle Quantitative Methoden.

Innerhalb der untersuchten Gruppe gab es jedoch Unterschiede, bei denen die Sprachkompetenz eine besonders große Rolle spielte. Tausendpfund: „Sprache ist ein zentraler Bildungsfaktor. Wer zuhause nicht deutsch spricht, hat es schwerer mit dem Wissenserwerb.“ Auch ein Migrationshintergrund kann hinderlich sein: Insbesondere Kinder mit einem türkischen Migrationshintergrund schnitten schlechter ab als Kinder ohne bzw. mit einem anderen Migrationshintergrund: „Bei den Kindern spiegeln sich die Verhältnisse bei den Erwachsenen wider.“

Wichtig sind aber auch die Bildung der Kinder und ihr Lerninteresse. Diese Unterschiede können die Grundschulen offensichtlich nicht ausgleichen, die Kluft zwischen europakundigen und wenig wissenden Kindern nimmt in der Grundschulzeit sogar zu.

Defizite bei der Forschung

Tausendpfund kritisiert: „Die Forschung befasst sich viel zu wenig mit kleineren Kindern. Es muss das Bewusstsein in Politik, Wissenschaft und Schulen geschaffen werden, dass sich gerade in dieser Altersphase demokratische Werte und Normen entwickeln. Europapolitische Bildung muss stärker im Grundschulunterricht verankert werden. So können z.B. aktuelle Ereignisse wie die Europawahlen thematisiert werden, natürlich in der richtigen Form. Spielerisch ist das durchaus möglich.“

Ein Mann blickt in Richtung Kamera Foto: FernUniversität
Markus Tausendpfund

Knapp 40 Prozent der Gesetze des Deutschen Bundestags haben mittlerweile ihren Ursprung in Brüssel, das politische System Deutschlands hat heute neben der nationalstaatlichen auch eine übernationale Komponente. Ohne Grundkenntnisse der Europäischen Union bleibt es daher vielfach unverständlich. Zentrale politische Herausforderungen wie Umweltschutz, Immigration und Arbeitslosigkeit werden auch auf europäischer Ebene diskutiert und bearbeitet. Deshalb muss politische Bildung in der Grundschule auch Grundkonzepte der Staatengemeinschaft vermitteln, um politische Entscheidungsprozesse nicht simplifizierend darzustellen. Ein Kennenlernen der Staatengemeinschaft in der Grundschule kann zudem dazu beitragen, die Unterschiede im Wissensniveau nach Geschlecht, Wohnumfeld und Nationalität zu verringern.

Gerd Dapprich | 07.05.2019