Was ist das Ziel der Einigung Europas?

Europa 2019: Für Prof. Andreas Haratsch von der FernUniversität ist das Ziel der Integration Europas nirgends festgelegt. Unbestritten ist aber ihr Erfolg als Friedensprojekt.


Ein großes altes Gebäude mit vielen europäischen Flaggen. Foto: Mario Gutiérrez_Moment_Getty Images
Das Rathaus in Brüssel.

„Es gibt mit der fortschreitenden Entwicklung der EU immer neue Ziele. Es ist aber nirgends definiert, was das Endziel der Europäischen Integration sein soll.“ Klar ist nach den Worten von Prof. Dr. Andreas Haratsch, Lehrstuhlinhaber für Deutsches und Europäisches Verfassungs- und Verwaltungsrecht sowie Völkerrecht an der FernUniversität in Hagen nur, mit welcher Absicht die Europäische Integration begann: „Dem Grunde nach war und ist sie ein Friedensprojekt, und zwar ein erfolgreiches. Dafür hat die EU ja auch den Friedensnobelpreis für das Jahr 2012 erhalten.“

Europäische Gemeinschaften

Die „Montanunion“, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), war ab 1951 als erste der später drei Europäischen Gemeinschaften das erste friedenssichernde Projekt im Nachkriegseuropa. Für gemeinsame Produktionsregelungen in beiden Industriezweigen richteten Frankreich, Italien, Belgien, Luxemburg, die Niederlande und die Bundesrepublik Deutschland eine Hohe Behörde ein, ein Vorläufer der heutigen Europäischen Kommission. Sie war damit die erste supranationale europäische Organisation. Damit war nach den Worten von Prof. Haratsch „Deutschlands Handlungsfreiheit in diesen beiden kriegswichtigen Branchen deutlich eingeschränkt“.

Ein Mann arbeitet an einem Schreibtisch und blickt in Richtung Kamera. Foto: FernUniversität
Prof. Andreas Haratsch

Ähnlich war es auch 1957, als diese sechs Staaten nicht nur die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gründeten, sondern auch die Europäische Atomgemeinschaft (EAG). Die heute noch existierende, als „EURATOM“ bekannte Organisation stellte die friedliche Nutzung der Nuklearenergie unter eine gemeinsame Kontrolle.

EGKS und EWG sind im Lauf der Jahre in unterschiedlicher Weise in der EU aufgegangen. Die EAG besteht daneben fort.

Schon Anfang der 1950er Jahre wollten die sechs Staaten eine „Europäische Verteidigungsgemeinschaft“ (EVG) gründen. Es war die Zeit des beginnenden Kalten Krieges und des heißen in Korea. Über eine gemeinsame Armee sollte Europa langfristig auch zu einer politischen Union werden. Frankreich fürchtete jedoch, die Kontrolle über seine Streitkräfte zu verlieren, und ratifizierte den EVG-Vertrag nicht.

Ziel der Integration undeutlich

„Auch wenn die Union immer enger wird“, ist für Andreas Haratsch das eigentliche Ziel der Integration „bis heute sehr undifferenziert“: „Sollen sich die Mitgliedsländer in einem Bundesstaat vereinigen? Oder einen Staatenbund bilden? Soll und kann die EU überhaupt ein Bundesstaat werden? Das weiß niemand.“ Nach Haratschs Meinung sind die Widerstände hierfür auch viel zu groß: „Vieles strebt derzeit auseinander.“

Auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ist hier keine große Hilfe. Für das Gericht ist die EU ein Staatenverbund – mehr als ein Staatenbund, aber weniger als ein Bundesstaat. Die Bundesrepublik muss an der Verwirklichung der Integration Europas mitwirken, das steht im Grundgesetz. „Aber wie das konkret geschehen muss, ist ebenfalls nicht festgelegt“, so der Verfassungsrechtler. Ebenso wenig, welche Struktur angestrebt werden soll.

Stillstand bei der Integration

Vielleicht sind diese Unsicherheiten ein Grund für den augenblicklichen Stillstand bei der Integration: „Die EU hat schon Mühe, das Erreichte zu sichern.“ Besonders kritisch sieht es für Haratsch bei den gemeinsamen europäischen Grundwerten aus, „der Konsens erscheint brüchig und die Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa sowie in Italien sind besorgniserregend“.

Das Problem liegt für den Wissenschaftler in den zurzeit unterschiedlichen Problemen der einzelnen Staaten, für die es keine einheitlichen Lösungen geben kann. Besonders gravierend ist die Flüchtlingskrise und das unsolidarische Verhalten vieler Staaten: „Wir haben Italien mit den Flüchtlingen alleine gelassen. In Deutschland war deren Zahl – verglichen mit Italien, Griechenland und Spanien – unglaublich gering. Das ist sicher ein Grund für den Auftrieb der italienischen Populisten, die Stimmung gegen die EU machen.“ Italien ist für Haratsch „am Rande des Tolerierbaren, seinem Innenminister Salvini „bedeuten Grund- und Menschenrechte nichts“.

Ein anderer Grund sind die Verwerfungen aus der Schuldenkrise. Die Sparzwänge trafen vor allem die südeuropäischen Staaten. Aufgrund der Staatsverschuldungen reichten ihre Haushaltsmittel nicht mehr für die Kernaufgaben und der Wohlstand der Menschen verringerte sich.

„Clübchen“-Bildung

In Ungarn und Polen, die stark von der EU profitieren, gibt es dagegen starke nationalistische Bewegungen. Sie wurden, wie auch Rumänien und Bulgarien – die innenpolitisch bei weitem nicht genug gefestigt waren – aufgrund geopolitischer Hintergründe in der EU aufgenommen: Sie sind Nachbarn Russlands.

Tschechien, Ungarn, Polen und die Slowakei arbeiten in der Visegrád-Gruppe (benannt nach der ungarischen Stadt Visegrád) zusammen – Staaten, die im Rahmen der europäischen Integration ihre zahlreichen gemeinsamen kulturellen und intellektuellen Werte und religiös-traditionellen Wurzeln schützen und stärken wollen. Dieser Zusammenschluss ist dem informellen Stadium entwachsen und hat sich zu einem „Clübchen“ (Haratsch) innerhalb der EU entwickelt, der den Status Quo in einigen Bereichen gegen neue Entwicklungen vehement verteidigt.

Mehrere Personen sitzen nebeneinander und diskutierten heftig. Foto: skynesher_E+_Getty Images
Zwischen den Staaten der Gemeinschaft wird zum Teil heftig über ihr weiteres Vorgehen diskutiert, zum Beispiel über das Flüchtlingsthema.

Geringes Exit-Interesse

Dennoch sieht Haratsch zurzeit nicht, dass diese Staaten aus der EU austreten würden: „Sie haben kein Interesse daran, auf die wirtschaftlichen Vorteile zu verzichten, die die EU ihnen bietet. Schon gar nicht Polen, das mit die meisten Fördergelder aus Brüssel erhält. Die Regierungen dieser Staaten kümmern sich zwar nicht um die europäischen Grundwerte, aber das Geld nehmen sie gerne. Gleichzeitig schreckt das Brexit-Chaos vor einem Austritt ab.“

Ausschließen kann man Länder andererseits aber nicht, denn „der EU-Sanktionsmechanismus ist zahnlos, weil ab einer bestimmten Stufe Einstimmigkeit gefordert ist“. Die Verhängung von Sanktionen scheitert dann an der der Solidarität dieser Staaten untereinander.

Die größte Gefahr geht für Haratsch zurzeit von Frankreich mit dem rechtsextremen Rassemblement National aus, die einen Austritt aus der EU anstrebt. Auch in Deutschland gibt es Bestrebungen der AfD. Prof. Haratsch: „Wenn eines dieser beiden Länder tatsächlich der EU den Rücken kehren würde, wäre der Rest der Union so geschwächt, dass dies faktisch ihr Ende bedeutet.“

Gerd Dapprich | 07.05.2019