Rudimentäres Wissen an der Wahlurne

Nehmen politisch informierte Bürgerinnen und Bürger eher an Wahlen teil? Stimmen sie seltener für EU-skeptische Parteien? Das untersuchten Dr. Markus Tausendpfund und eine Kollegin.


Wer keine Ahnung von Politik hat, wählt eher europaskeptische Parteien… Tatsächlich? Angesichts jüngster Wahlerfolge populistischer Parteien – wie bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich – scheint es gesellschaftlicher Konsens zu sein, dass deren Wählerinnen und Wähler politisch eher unwissend sind. Der Sozialwissenschaftler Dr. Markus Tausendpfund von der FernUniversität in Hagen fragte sich, ob das stimmt: Wie wirkt sich politisches Wissen von Bürgerinnen und Bürgern auf deren Wahlbeteiligung und Wahlentscheidung aus?

Portrait von Dr. Markus Tausendpfund
Dr. Markus Tausendpfund (Foto: Bernhard Kreutzer)

Gemeinsam mit der Politikwissenschaftlerin Dr. Daniela Braun von der Ludwig-Maximilians-Universität München untersuchte Tausendpfund mit Daten der European Election Study 2014 das Wahlverhalten der Bürgerinnen und Bürger bei der Europawahl 2014. Mit 42,6 Prozent war die Beteiligung an der EU-Wahl 2014 die niedrigste bei Direktwahlen des Europäischen Parlaments. Gleichzeitig erreichten euroskeptische Parteien den höchsten Stimmenanteil seit 1979.

Portrait von Dr. Daniela Braun
Dr. Daniela Braun, LMU München (Foto: privat)

Wissen und wählen: Ja, aber was?

„Je größer das politische Wissen, desto eher wird sich eine Person auch an einer Wahl beteiligen“, erläutert Dr. Tausendpfund, „das ist relativ gut erforscht“. Politisch Gebildete beteiligen sich auch eher an EU-Wahlen, weil sie deren Bedeutung erkennen. Nur wer das entsprechende Wissen hat, kann die hochkomplexen politischen und strukturellen Zusammenhänge der EU verstehen und die Bedeutung der Brüsseler Entscheidungen für alle EU-Bürgerinnen und EU-Bürger einschätzen.

Falsch wäre jedoch der Schluss, „dass jemand mit viel politischem Wissen nicht euroskeptisch wählt“, haben die Wissenschaftler festgestellt. „Wer zufrieden mit der Europäischen Union ist, tendiert seltener zu EU-kritischen Parteien. Wer mit der EU hadert, neigt ihnen eher zu“, sagt Tausendpfund.

Es gibt einen weiteren Grund, antieuropäisch zu wählen: Unzufriedenheit mit der eigenen nationalen Regierung: „Es kann auch um Denkzettel für nationale Eliten gehen“, sagt Tausendpfund.

Für den Wissenschaftler im Arbeitsbereich Quantitative Methoden der Hagener Fakultät Kultur- und Sozialwissenschaften ist die bisherige Vernachlässigung des politischen Wissens überraschend und besorgniserregend, „weil es für die politischen Einstellungen und Verhaltensweisen der Bürgerinnen und Bürger außerordentlich bedeutend ist“.

Die Neigung zu Protestwahlen dürfte auf der EU-Ebene größer sein als etwa bei einer Bundestagswahl. Tausendpfund: „Die EU-Wahl wird als weniger wichtige ‚Nebenwahl‘ wahrgenommen. In Deutschland zum Beispiel liegt die Beteiligung daran mit etwa 45 Prozent auf eher schwachem Niveau.“ Das sei allerdings fatal, weil auf der EU-Ebene immer mehr Entscheidungen fallen, die auch für die Bürgerinnen und Bürger in den Nationalstaaten wichtig sind. „Die Bedeutung des Europäischen Parlaments wächst, die Beteiligung bei seiner Wahl sinkt. Der Bundestag wird als viel wichtiger wahrgenommen.“

EU-Wahl und Bundestagswahl

Die Ergebnisse für die EU-Wahl sind, so Tausendpfund, nicht ohne weiteres auf die Bundestagswahl zu übertragen. Doch auch das bundespolitische Wissen der Deutschen sei „überschaubar“: „In Deutschland und in vielen anderen Staaten ist es mittelmäßig bis schwach und zudem auf niedrigem Niveau weit gespreizt. Den Homo Politicus gibt es eher nicht.“ Das sei problematisch, weil „rudimentäres Wissen an der Wahlurne“ im Gegensatz zur gesellschaftlich-politischen Erwartungshaltung stehe, sich im Sinn einer direkteren Demokratie immer stärker zu beteiligen.

Nur 60 Prozent der Bürgerinnen und Bürger wissen zum Beispiel, dass die Zweitstimme wichtiger ist als die Erststimme. Auch um weiteres Basiswissen – etwa zu Wahlgeheimnis oder 5-Prozent-Hürde – „ist es erschreckend bestellt“, so Tausendpfund, „vor allem bei Bürgerinnen und Bürgern, die sich im Alltag nicht mit Politik beschäftigen.“ Nicht besser sieht es aus, wenn es um Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitiker geht: Nur 20 Prozent der Befragten konnten zum Beispiel anlässlich der Europawahl 2014 Jean-Claude Juncker (Europäische Volkspartei) und Martin Schulz (Europäische Sozialdemokraten) ihren Fraktionen im Europäischen Parlament richtig zuordnen.

Einflussfaktoren

Beeinflusst wird das politische Wissen von Fähigkeiten wie Bildung, von Motivation wie das politische Interesse sowie von Gelegenheit wie der Nachrichtenkonsum. Dabei spielen die öffentlich-rechtlichen Medien und die Qualitätspresse eine große Rolle. Sie liefern ein großes Maß an politischem Wissen, während der Nachrichtenkonsum der privaten Fernsehsender, so Tausendpfund, einen eher schwachen bis negativen Effekt auf das politisches Wissen hat. Im Internet, auf Facebook & Co., könnten die Menschen „sich ihre eigene Medienwelt schaffen“.

Defizite in der Forschung

Tausendpfund und Braun haben festgestellt, dass es noch viele ungelöste Fragen zu der Thematik gibt.

Politisches Wissen ist in zahlreichen Studien bereits breit erforscht worden – allerdings vor allem in den USA. In Europa ist die Forschungslage dürftig, insbesondere die Auswirkungen des politischen Wissens auf das Wählerverhalten bei Europawahlen sind bislang kaum erforscht.

So unterscheidet die empirische Forschung häufig nicht zwischen fehlendem und falschem Wissen von Bürgern – sie werden einfach in eine gemeinsame Gruppe einsortiert. Es ist aber bisher noch völlig unbekannt, wie sich fehlendes Wissen einerseits und falsches andererseits auf das Wahlverhalten auswirkt.

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, was „politisches Wissen“ eigentlich genau ist. Was müssen demokratische Bürgerinnen und Bürger wissen? Wie kann es erfasst werden? Müssen sie die zentralen politischen Streitfragen kennen? Die relevanten Personen ihren Parteien zuordnen können? „Das sind zentrale Streitfragen“, gibt Tausendpfund zu, „denn dafür gibt es keine DIN-Normen!“

„Fraglich“ sind für ihn teilweise auch „die Items, mit denen politisches Wissen erfasst wird, etwa durch die Frage, welche Personen für welche Parteien stehen. Und lassen sich Ergebnisse von Forschungen, die die Schweiz betreffen, einfach auf die EU übertragen? Insbesondere im Hinblick auf das Wissen über die EU müssten unbedingt Wissensitems aufgenommen werden, die sich stärker mit konkreten Politikinhalten – den Policies – auseinandersetzen, da auf diese Weise stärker die „klassischen Mythen der Staatengemeinschaft“, die in der Öffentlichkeit häufig kontrovers diskutiert werden, in den Blick genommen werden können. Ein neues Phänomen sind Fake-News: Glauben die Menschen ihnen? Lassen sie sich davon beeinflussen?

Das sagt aber noch nichts dazu aus, ob sie grundsätzlich kleinere Parteien bevorzugen oder gezielt populistische kleinere Parteien: „Dafür gibt es bisher zu wenige Ergebnisse“, bedauert Tausendpfund. „Man muss dafür die richtigen Fragen stellen und differenzieren können. Bei Stimmanteilen von vier bis fünf Prozent sind die Datenbasen kleinerer Parteien für wissenschaftliche Auswertung einfach nicht groß genug.“

Gerd Dapprich | 27.04.2017