Veranstalter*innen: Prof. Dr. Claudia de Witt, Dr. Christian Leineweber, Vanessa Meiners
Eine Hermeneutik, die sich als digital begreifen und profilieren möchte, verweist ganz wesentlich auf die Methode, sprachlich kommunizierten und maschinell berechneten Sinn zu verstehen. Mensch und Maschine treten so in ein Netzwerk von kommunizierten und kommunizierbaren Verständnissen. Dies setzt nicht mehr nur ein Verstehen der Welt, sondern darüber hinaus auch verstehende Algorithmen und ein Verstehen der Algorithmen voraus. Unser Panel widmet sich diesem ›Doppelspiel‹ mit dem Ziel, die Beziehung zwischen menschlichem und maschinellem Verstehen in unterschiedlichen Facetten zu (de-) konstruieren.
Gibt es bleibende Unterschiede zwischen Informationsverarbeitung und Sinnverstehen?
Prof. Dr. Matthias Kettner (Universität Witten/Herdecke)
Wie können wir das Verhältnis von Informationsverarbeitung und Sinnverstehen verstehen, wie theoretisch aufschlüsseln? Ich wähle als Bezugsproblem die Funktion(en) von Welterschließung und erprobe folgende Kontrasthypothese: während die primäre Funktion von Welterschließung durch Maschinenlesbarkeit die algorithmisierbare Informationsverarbeitung ist, ist die primäre Funktion von Welterschließung durch Sinnverstehen die kommunizierbare Situationsorientierung. Wenn es im Rahmen steil naturalistischer Positionen von Computer- und Kognitionswissenschaft so erscheint, als sei menschliches Sinnverstehen letztlich „auch nur eine Form von Informationsverarbeitung“, erscheint dies von der Warte einer Hermeneutik-Theorie, die Sinnverstehen als Zugänglichwerden fremden mentalen Lebens unter Lebewesen mit mentalem Eigenleben und gemeinsamer Sprache (d.h. unter Personen, nicht Maschinen) begreift, absurd reduktionistisch. Beides ist zu einfach. Lässt sich diskurspragmatisch differenzierter über Unterschiede von Information und Sinn nachdenken?
Matthias Kettner ist Professor für Philosophie und Diplompsychologe. Er hat bei bei Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas mit einer Schrift zu Hegel in Frankfurt promoviert und sich mit einer Schrift über Perspektiven der Diskursethik habilitiert. Seit 2002 hat er den Lehrstuhl für Praktische Philosophie an der Universität Witten/Herdecke inne und seit 2021 ist er Seniorprofessor in der Fakultät für Wirtschaft und Gesellschaft.
Analog/digital – (wie) spricht der Zettelkasten Niklas Luhmanns?
Dipl.-Soz. Johannes Schmidt (Universität Bielefeld)
Niklas Luhmann (1927–1998) war einer der letzten Großtheoretiker der Soziologie. Er hat über 30 Jahre lang kontinuierlich an einer universalen Theorie der modernen Gesellschaft gearbeitet. Letztlich kann man nahezu alle Publikationen Luhmanns – und das waren bereits zu Lebzeiten mehr als 50 Bücher und 500 Aufsätze – als Beiträge zu diesem Werk verstehen. Die Grundlage seiner wissenschaftlichen Arbeit war eine schließlich ca. 90.000 Zettel umfassende Notizensammlung, die Luhmann zwischen 1952 und 1997 anlegte und in der er seine Lektüreergebnisse und Theoriefortschritte dokumentierte. Diese Sammlung war aber nicht nur eine Gedächtnisstütze über Gelesenes, sondern zugleich ein Denkapparat und eine Publikationsmaschine. Der Zettelkasten wird nun im Rahmen eines Nachlasseditionsprojekts transkribiert und digitalisiert (niklas-luhmann-archiv.de).
Luhmann bezeichnete die heterarchisch organisierte Sammlung als ein „kybernetisches System“; seine Selbstauskunft war, dass nicht er, sondern der Zettelkasten seine vielen Texte schreiben würde. Dieses (Under)Statement war für den analogen Kasten wenig überzeugend: der Kasten benötigte, um als Textgenerator zu funktionieren, ganz offenkundig einen Operateur, der eine Einstiegsfrage formulierte, die Zettel heraussuchte und die darauf zu findenden Argumente schließlich in eine sinnvolle und lineare, textkompatible Ordnung bringen musste. Ändert sich etwas an dieser Abhängigkeit von einem sinnverstehenden Außenhalt, wenn der Kasten nun digitalisiert wird? Führt die Edition also über eine (nur) digitale Rekonstruktion des analogen Vorbilds hinaus, indem sie die Sammlung auf eine andere Weise mit sich selbst ins Gespräch bringt? Wird der Kasten also erst jetzt zu einem kybernetischen System, das neue Formen des Sinnverstehens ermöglicht?
Seit 2015 ist Dipl.-Soz. Johannes Schmidt wissenschaftlicher Koordinator des Akademieprojekts „Niklas Luhmann – Theorie als Passion. Wissenschaftliche Erschließung und Edition des Nachlasses“ (https://niklas-luhmann-archiv.de) an der Universität Bielefeld.
Der Rückschlag der Apparate auf das Bewusstsein: Vilém Flusser, Don Ihde und eine erweiterte Hermeneutik
Dr. Daniel Irrgang (Weizenbaum Institut/Universität der Künste, Berlin)
Flusser stand mit seinen Thesen zu den Funktionen von Apparaten nicht nur neueren medientheoretischen Positionen (u.a. Galloway, Morozov) nahe, sondern auch den Science Studies, die in den letzten rund 30 Jahren die Rolle von Instrumenten und Materialitäten für Verstehen und Erkenntnis von einer funktionalistischen Peripherie ins Zentrum der Debatten verschoben haben. In diesem Vortrag soll Flussers Apparat-Begriff mit Theorien aus den Science Studies aufgeschlossen werden, insbesondere mit den postphänomenologischen Schriften Don Ihdes. In seinem instrumental realism geht dieser davon aus, dass (wissenschaftliche) Erkenntnis in einem doppelten Sinne verkörpert ist: einerseits durch den Körper des Instruments, welches das epistemische Objekt phänomenotechnisch (Rheinberger/Bachelard) ermöglicht, andererseits durch den Körper der/des Forschenden selbst, der räumlich/sozial/kulturell verortet ist. Beide „Körper“ bestimmen also maßgeblich die Darstellung und Interpretation gesammelter Daten. Um diese doppelte Körperlichkeit als Bedingung von Verstehen anzuerkennen und kritisch diskutieren zu können, schlägt Ihde eine expanded hermeneutics vor. Eine Hermeneutik, die einerseits von Sprache und Text auf Instrumente und ihre Darstellungen erweitert wird und die andererseits, angereichert mit phänomenologischen Perspektiven, der Körperlichkeit des Verstehens Rechnung trägt. Um es mit Ihde zu formulieren: „It is at this very point, in the analogization of human embodiment with artifactual embodiment, that an expanded hermeneutics is called for.“
Dr. Daniel Irrgangist Medienwissenschaftler und stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe „Ungleichheit und digitale Souveränität“ am Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft in Berlin, die der Universität der Künste (UdK) Berlin zugeordnet ist. Er hat über Diagrammatik und Expanded-Mind-Theorien promoviert und war zwischen 2016 und 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent des Rektors an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung (HfG) Karlsruhe und zwischen 2013 und 2016 wissenschaftlicher Leiter des Vilém Flusser Archivs an der UdK Berlin. Daniel Irrgang ist Affiliated Researcher am Center Art as Forum an der Universität Kopenhagen (Marie Skłodowska-Curie Fellowship).