Veranstalter*innen: Dr. Almut Leh, Dr. Dennis Möbus
Historisches Verstehen ist nicht nur das Ziel geschichtswissenschaftlicher Hermeneutik, es ist vielmehr in die DNA der Hermeneutik eingeschrieben: Welt und Mensch sind nur in ihrem „Gewordensein“ (Johann Gustav Droysen) zu verstehen. Nicht selten teilt sich der hermeneutisch verfahrende Fächerkanon Quellenkorpora oder Forschungsdaten, die mit je eigenen Perspektiven, Fragestellungen und methodischen Ausprägungen untersucht werden. Durch die Digitalisierung ist das ‚hermeneutische Handwerk‘ bedeutenden Veränderungen ausgesetzt, es gilt Heuristik, Quellenkritik und Methodik grundlegend zu überdenken.
Zur Rekonstruktion historischer Bibliotheken im digitalen Raum
Dr. Ioanna Georgiou (Universität Bern)
Historische Bibliotheken, deren Bestände heutzutage mitunter weit verstreut sind, können im digitalen Raum dokumentiert und so wieder zusammengefügt werden. Verlorene Bücher, deren Existenz nur in Katalogeinträgen oder Bücherlisten nachweisbar ist, werden auf diese Weise für einen größeren Nutzerkreis erschlossen. Ein Vergleich einzelner Bibliotheken, etwa solcher von Gelehrten, kann darüber hinaus Überlieferungszusammenhänge oder Lesegewohnheiten deutlicher hervortreten lassen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Möglichkeiten die digitale Aufarbeitung solcher Bibliotheken eröffnet und was es dabei zu beachten gilt. Beispielhaft soll dies anhand der Bibliothek des Augsburger Frühhumanisten Sigmund Gossembrot (1417–1493) aufgezeigt werden, die derzeit in einem an der Universität Bern durchgeführten Digitalprojekt bearbeitet wird. Ein nicht unerheblicher Teil dieser Bibliothek kann nur dank der zahlreichen Notizen und Querverweise, die Gossembrot in seinen Büchern hinterlassen hat, rekonstruiert werden. Der Vortrag veranschaulicht die Rekonstruktion der verschollenen Bücher anhand der Querverweise und thematisiert, wie die Ergebnisse im digitalen Raum aufbereitet werden.
Ioanna Georgiou hat in München Geschichte und Philosophie studiert und wurde 2021 an der Universität Innsbruck promoviert. Sie ist seit Februar 2021 an der Universität Bern im SNF-Projekt „Rekonstruktion der Bibliothek von Sigmund Gossembrot (1417–1493)“ tätig.
Netzwerkvisualisierung als biographisches Sinnstiftungsverfahren
PD DR. Birgit Dahlke (HU Berlin), Prof. Dr. Jörn Kreutel (HU Berlin), Dr. Thomas Möbius (HU Berlin)
Im Rahmen des DFG-geförderten Projekts „Forschungsplattform Literarisches Feld DDR: Autor*innen, Werke, Netzwerke“ werden auf Grundlage von Lexika, Archiven und anderen Quellen die Autor*innen der DDR prosopographisch mit Daten zu Biographie, Werk und Rezeption in einer Datenbank erfasst. Für die Erfassung der individuellen Biographien werden die v.a. in Lexika üblicherweise narrativ dargestellten „Lebensverläufe“ in Aussagen über einzelne biographische Ereignisse segmentiert. Diese Ereignisse werden als Menge von Elementaraussagen über die mit einem Ereignis assoziierten Akteur*innen, Orte, Institutionen etc. erfasst und belegt. Auf diese Weise ergeben sich u.a. Verbindungen zwischen Personen und anderen Entitäten, die durch Ereignisse hergestellt werden und als Netzwerke visualisierbar sind. Das Herstellen und zugleich Deuten von biographischen Sinnzusammenhängen stellt sich auf Basis solcher Entitätsnetzwerke grundlegend anders dar als in narrativen biographischen Darstellungen. Ausgehend von konkreten Autor*innen und den mit ihnen durch biographische oder Publikationsbeziehungen verbundenen Akteur*innen können durch die Visualisierung verschiedener Entitätskategorien und Ereignistypen beispielsweise geographische oder institutionsbezogene Beziehungen, die aus einer rein hermeneutischen Perspektive auf individuelle Biographien nicht in den Blick geraten, sichtbar gemacht werden. In unserem Beitrag gehen wir der Frage nach, inwiefern Netzwerkvisualisierungen von biographischen Daten den Blick auf Autor*innen und deren Rezeption sowie auf literaturhistorische Zusammenhänge verändern.
Dr. Birgit Dahlke, PD, Literaturwissenschaftlerin und seit 2016 Leiterin der neu eingerichteten „Arbeits- und Forschungsstelle Privatbibliothek Christa und Gerhard Wolf“ an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Dr. Jörn Kreutel, Professor für Medieninformatik an der Berliner Hochschule für Technik. Forschungsschwerpunkte: Modellierung und Analyse bio-bibliographischer Datenbestände und Konzeption nutzerfreundlicher Bedienoberflächen für Datenerfassung und -zugriff.
Dr. Thomas Möbius, Literatur- und Sozialwissenschaftler, seit 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Literarisches Feld DDR: Autor*innen, Werke, Netzwerke“ an der Humboldt-Universität zu Berlin/Institut für deutsche Literatur.
Die dritte Dimension im digitalen Raum
Marcus Feldbrügge (Bergische Universität Wuppertal)
Seit der Etablierung der Digital Humanities und dem damit stattfindenden Übergang von der Buchseite zur Webseite haben sich die Paradigmen nur augenscheinlich geändert. Freilich ermöglicht das Digitale eine Dynamisierung des zuvor eher als statisch wahrgenommenen Buches, allerdings bleiben auf der makronavigatorischen Ebene ein Großteil der seit der Erfindung des Buchdrucks eingeführten Strukturelemente bestehen. Insbesondere haben es digitale Editionen bislang nicht bewerkstelligt, einen Weg zu finden, um die materiellen Besonderheiten von beschriebenen Dokumenten wie Säulen, Reliefs, Assemblagen oder Tontafeln adäquat zu transponieren. Aufgrund des zweidimensionalen Charakters (2D) des Faksimiles, sowohl im analogen Buch als auch auf dem digitalen Bildschirm, lassen sich solche Dokumente nur unter einem Verlust der dritten Dimension (3D) übertragen. Daher muss folglich die Frage gestellt werden, ob das 2D Faksimile als Ausgabemedium solchen 3D Dokumenten überhaupt gerecht wird? Immersive Technologien wie Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) kennen die Beschränkung auf zwei Dimensionen jedoch nicht und könnten dabei helfen, das Editionsparadigma neu zu reflektieren. Anhand von Beispielen aus der Edition von Avantgardekünstler*innen soll aufgezeigt werden, wie VR und AR dabei unterstützen, die dritte Dimension in die digitale Edition einziehen zu lassen. In diesem Rahmen sollen die Limitierungen des digitalen Faksimiles herausgestellt und über neue Editionswege – weg vom Buchparadigma – nachgedacht werden.
Marcus Feldbrügge ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im „Graduiertenkolleg 2196 Dokument – Text – Edition“ an der Bergischen Universität Wuppertal. Studium der Germanistik und der französischen Romanistik. Masterstudium der Editions- und Dokumentwissenschaft. Dissertationsthema: Edition von dreidimensionalen Dokumenten.